Der Ruf der Wollust: Roman (German Edition)
Mietkutsche während der letzten Stunde vor Sonnenaufgang, und jetzt fuhren sie bereits den ganzen Tag in Richtung Paris. Zu lange. Alles hatte viel zu lange gedauert.
Beatrix seufzte. Unter den Wimpern hervor beobachtete sie Jerry, der im Mundwinkel auf seiner Lippe herumkaute. Unansehnlich. Vielleicht war alles, was er brauchte, jemand, der ihm half, weiterzumachen. Gott, jetzt klang sie bereits wie Stephan! Man musste sich nur ansehen, wohin das geführt hatte. Sie hatte keine Zeit für Jerry. Sie musste herausfinden, was mit John geschehen war. Sie wagte nicht zu hoffen, dass John noch lebte. Selbst wenn Asharti ihn eine Zeit lang für ihre Lustspiele benutzt hatte, konnte er das nicht lange durchgehalten haben, nicht wahr? Aber wenn auch nur die kleinste Chance bestand, dann musste sie sie nutzen. Sie hatte sich überlegt, dass sie Asharti nicht in ihrer Höhle in der Rue Bonaparte gegenübertreten sollte. Wenn sie sich erst ihrer alten Freundin zu erkennen gegeben hatte, wäre ein Kampf auf Leben und Tod unvermeidlich – und was würde dann aus John werden? Nein, sie musste herausfinden, wo John gefangen gehalten wurde, ohne dass Asharti davon erfuhr, dass sie in Paris nach ihm suchte. Wenn er noch am Leben war, musste sie ihn in Sicherheit bringen, ehe sie sich um Asharti kümmerte.
Ihr Blick kehrte zu Jerry zurück. Er zitterte.
»Ist dir kalt?«, fragte sie. »Oder musst du Blut trinken?«
»Nur kalt, denke ich.« Er brach sein ängstliches Schweigen, das er seit der Fahrt über den Ärmelkanal eingehalten hatte, und drückte sich in seine Ecke. »Ich habe vor Kurzem recht gut getrunken.«
Sie wollte nicht wissen, ob er sein Opfer getötet hatte. Sie warf ihm ihre Schoßdecke zu. Er sah sie argwöhnisch an. Seine Angst vor ihr hatte sich ein wenig gelegt, nachdem er begriffen hatte, dass sie nicht vorhatte, ihn zu töten. »Danke.« Er legte sich die Decke um die Schultern. »Warum sind Sie hinter ihr her?«
Beatrix presste die Lippen zusammen. »Sie hat etwas, das mir gehört. Ich will es zurück.«
Jerry machte große Augen. »Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich lieber nicht dabei sein, wenn Sie sie finden.«
Sie nickte und schenkte ihm ein kleines flüchtiges Lächeln. »In Ordnung. Wenn ich mit ihr fertig bin, werde ich dir helfen zu lernen, wie es weitergehen soll.«
Die Kutsche verlangsamte ihre Fahrt. Beatrix schaute mit zusammengekniffenen Augen gegen die untergehende Sonne aus dem Fenster. Sie hatten die Randbezirke von Paris erreicht. Es würde noch einige Stunden dauern, bis sie sich in einem Hotel einquartieren konnten. Wie nur sollte sie John finden? Vielleicht war die Rue Villar der beste Ort, um in Erfahrung zu bringen, wo Gefangene für die Befragung festgehalten worden. Dort war der Sitz des französischen Geheimdienstes. Sie konnte nur hoffen, dass Asharti nicht dort war.
Jerry war fort. Er hatte das Weite gesucht, während Beatrix ihrer nächtlichen Beschäftigung nachgegangen war. Sie schaute sich in dem kleinen Zimmer im Hôtel du Soleil um, mit einem Gefühl, als würde sie versagen, welchen Schritt auch immer sie unternahm. Was hatte sie anderes von Jerry erwartet? Aber sie war jetzt zu beschäftigt, um seine Spur aufnehmen zu können. Sie würde sich später um ihn kümmern.
Ihr Besuch in der Rue Villar war höchst aufschlussreich gewesen. Sie hatte bis spätnachts abgewartet, auch wenn es sie geschmerzt hatte, Zeit zu vergeuden. Sie wusste, dass einige Angestellte in der Keimzelle des französischen Geheimdienstes noch bei der Arbeit sein würden, und Asharti würde sich zu dieser nächtlichen Stunde nicht in der Nähe von etwas so Banalem aufhalten. Beatrix schlüpfte ins Gebäude und befragte jeden Mann, den sie bei Lampenschein über einen Schreibtisch gebeugt sitzend antraf, bis sie den einen fand, der wusste, wohin der wertvollste Gefangene zur Befragung gebracht worden war. Sie hatte vermutet, die Antwort würde irgendein Gefängnis vor Ort wie etwa die Conciergerie sein. Aber dem war nicht so.
Ganz besondere Gefangene wurden in die Villa des Comte de Fanueille vor den Toren von Chantilly gebracht. Natürlich hatte sie sofort dorthin eilen wollen. Aber sie musste sich zügeln. Denn zuerst musste sie in Erfahrung bringen, ob Asharti dort war. Also ging sie stattdessen in die Rue d’Armenac, zu dem kleinen Haus von Madame Robillard. Madame wusste alles über jeden. Beatrix hatte sie in Wien kennengelernt vor … oh, dreißig Jahren. Normalerweise riskierte sie
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