Der Ruf der Wollust: Roman (German Edition)
es nicht, jemanden aufzusuchen, den sie seit dreißig Jahren nicht gesehen hatte. Madame musste älter geworden sein. Beatrix nicht. Aber hier lag die Sache anders. Beatrix trug einen Schleier und gab an, sie habe einen Unfall erlitten, der sie entstellt hatte. Entschlossen bügelte sie Madames Neugier ab, nur »einen kurzen Blick darauf werfen zu dürfen«, und verbrachte eine frustrierende Stunde damit, Erinnerungen auszutauschen, bis sie die Rede auf Asharti und ihren Aufenthaltsort bringen konnte.
Es waren keine guten Nachrichten, die sie zu hören bekam. Asharti würde morgen nach Chantilly zurückkehren.
Der Portier kümmerte sich um ihre Reisetasche. Sie rollte die Landkarte ein, die sie sich vom Hausknecht hatte holen lassen, und steckte sie in ihren Pompadour. Hätten ihre Bekannten aus Amsterdam oder London je geglaubt, dass sie mit so wenig Gepäck verreisen konnte? Aber niemand in diesen beiden Städten wusste, dass sie die Karpaten in einem Zigeunerkarren überquert und Indien zu Fuß bereist hatte. Sie ließ einige Louisdors als Bezahlung für das Zimmer zurück und lief die Treppe hinunter zu der wartenden Kutsche. Sie war für die Reise in eine dunkelblaue, tief ausgeschnittene Robe gekleidet, über der sie einen Mantel in einem etwas helleren Blau trug. Ein einzelner Saphir hing an einer Halskette, ihre Ohrläppchen zierten ebenfalls Saphire. Ihr Dekollete wurde von dem Mantel verdeckt.
»Sorg dafür, dass in der Kutsche die Vorhänge geschlossen sind. Fest, wohlgemerkt«, befahl sie dem Stallknecht, der in der Nähe der Eingangstür stand, während sie ihre Handschuhe anzog und den dichten Schleier, den sie bei Madame Robillard getragen hatte, über ihren dunkelblauen Filzhut legte, der mit einem Strauß blauschwarzer Federn besetzt war. Es galt, keinen Augenblick mehr zu verlieren. Sie atmete tief durch und eilte zur Kutsche. Die Sonne brannte ihr in den Augen, und ihre Haut prickelte, obwohl sie so gut verhüllt war.
Die Türen wurden zugeschlagen. »Chantilly«, rief der Stallknecht dem Kutscher zu, »und Mylady sagt, dass es ein ansehnliches Trinkgeld geben wird, wenn du die Pferde rennen lässt.« Der Kutscher gab seinen feurigen Grauen das Zeichen zum Loslaufen. Sie stürmten los.
Beatrix beugte sich auf ihrem Sitz vor, als würde die Kutsche dadurch noch schneller werden. Bis Chantilly waren es gut achtzig Kilometer, aber bevor sie verlorene Zeit aufholen konnten, musste zunächst der Verkehr in Paris bewältigt werden. Sie nahm ihre Karte und studierte sorgsam die Umgebung von Chantilly, um sich von ihrer Ungeduld abzulenken. Seit der Ankunft in Paris, Madame Robillard und der Rue Villar war eine weitere Nacht vergangen. Konnte John Ashartis verheerende Aufmerksamkeit überlebt haben, so lange wie er jetzt vermutlich schon in Chantilly gefangen gehalten wurde? Sie glaubte es nicht. Mit ihrem Willen trieb sie die Kutsche weiter durch die brennende Sonne voran.
John hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Die Dunkelheit, die immerwährende Wärme, die feuchten, schwitzenden Mauern, der Geruch von Mineralien im Wasser – all das zusammen griff seine Sinne und seinen Verstand an. Quintoc war nicht zurückgekommen, aber das würde nicht so bleiben. John glaubte, für einige Zeit ohnmächtig gewesen zu sein, gleich nachdem beide ihm Blut abgezapft hatten. Er wusste also nicht, wann Asharti zurückkommen würde. Er wusste nur, dass Quintoc zu ihm gehen würde, ehe Asharti zurückkehrte. Und er war nicht sicher, ob er sich noch einmal gegen ihn würde wehren können. LeFèvre brachte ihm Essen und trug den Nachttopf fort, um ihn durch einen leeren zu ersetzen, aber der Kerl war schweigsam und sprach kein Wort. Johns Hände waren noch immer auf dem Rücken gefesselt, deshalb zwang LeFèvre ihn dazu, wie ein Hund vom Teller zu essen. Es war demütigend, aber John verdrängte seinen Stolz und aß, um bei Kräften zu bleiben. Es schien ihm, als würde das alles jemand anderem widerfahren.
Es überraschte ihn nicht, als er in der offenen Tür eine schmalere Silhouette als die LeFèvres stehen sah. Er hielt den Atem an, während Quintoc die Zelle betrat. Das Messer in seiner Hand glänzte im Fackelschein.
Quintoc steckte die Fackel in den Wandhalter und wandte sich zu John um. Er grinste. »Nun, wollen wir es noch einmal versuchen? Ich denke, wir werden das Bad auslassen. Ich fühle mich heute Abend ein wenig animalisch. Ich werde dich in all deinem Dreck nehmen.« Er fuhr mit dem Daumen über die
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