Der Ruf des Abendvogels Roman
sich noch, dass ich ihnen erzählt habe, wie sie in mein Büro gekommen ist?«
Wieder nickte Elsa.
»An ebenjenem Tag hatte ich meinen Geschäftsführer gebeten, das Bild, das Victoria mir überlassen hatte, einzupacken und es ihr zurückzuschicken. Da ich aber von Victoria nichts gehört habe, könnte es durchaus sein, dass Tara es mitgenommen hat – Victorias Name und Adresse standen darauf.«
»Vielleicht ist meine Schwägerin längst nicht mehr dort«, meinte Elsa mutlos. Sie konnte nicht glauben, dass Tara ganz allein nach Australien gereist war.
»Ich glaube, dass Victoria noch immer auf der Farm ist«, erwiderte Riordan. »Zumindest habe ich keinen Grund, etwas anderes anzunehmen. Wenn sie nach Irland zurückgekommen wäre, hätte sie sicher versucht, mit Ninian Kontakt aufzunehmen. Ihren Briefen war zu entnehmen, dass sie gern auf der Farm lebte und entschlossen war, dort zu bleiben. Nachdem ihr Mann gestorben war, schrieb sie sogar, sie wünsche sich, dass Tara bei ihr leben und ihr helfen solle.«
Jetzt war Elsa über alle Maßen erstaunt. Sie konnte sich dieschöne, vornehme Victoria beim besten Willen nicht im Staub zwischen Rindern und Schafen vorstellen, dazu in einem so riesigen, leeren Land.
»Soviel ich weiß, war Victorias Ehemann sehr wohlhabend, und die beiden haben sich ein außergewöhnlich imposantes Haus gebaut, das Tara eines Tages erben soll.«
Elsa war sehr angenehm überrascht. Diese Neuigkeit ließ alles in einem neuen Licht erscheinen.
»Mein Geschäftsführer behauptet zwar, Tara habe die Adresse auf dem Paket nicht gesehen, aber er ist, was Zigeuner anbelangt, etwas ... intolerant, und Tara war ihm gegenüber nicht sehr freundlich – was sein Wort in dieser Sache nicht eben verlässlich erscheinen lässt.« Riordan war sich inzwischen sicher, dass Kelvin in dieser Angelegenheit absichtlich die Unwahrheit sagte, um ihre Suche zu behindern. Er selbst hielt es für sehr wahrscheinlich, dass Tara die Adresse auf dem Paket gesehen hatte. »Ich weiß, dass es nur eine geringe Chance ist, aber wir haben keine andere Spur.«
Am späten Abend wussten Riordan und Elsa endlich, was sie wissen wollten, doch bis dahin hatten sie einige ereignisreiche Stunden hinter sich. In den Zeiten der Depression drehte sich kein Rad, ohne dass es geschmiert wurde, und sie hatten viele bürokratische Hemmnisse zu überwinden, bis sie an die gewünschte Information gelangten. Dann sagte man ihnen im Schifffahrtsbüro, dass Tara Irland am sechsten Oktober mit dem Ziel Australien verlassen hatte.
Sie wurden innerlich von den verschiedensten Gefühlen hin und her gerissen, als sie erfuhren, dass die Emerald Star vor der Küste Südaustraliens gesunken war und das Unglück viele Todesopfer gefordert hatte. Es dauerte zwei endlose Stunden, bis feststand, dass eine Kopie der Liste der Opfer nicht aufzufinden war. Sie sprachen mit einem ehemaligen Besatzungsmitglied der Emerald Star , das jetzt im Büro der Schifffahrtsgesellschaft arbeitete.Der Mann meinte, Taras Namen auf der Liste der Todesopfer gesehen zu haben, doch als Elsa schluchzend ein Bild ihrer Tochter hervorholte, war er sich ziemlich sicher, dass sie unter den Überlebenden gewesen war.
Als sie das Büro verlassen hatten und in Riordans Ford ›Modell T‹ einstiegen, fasste Elsa einen Entschluss.
»Riordan, ich glaube, dass meine Tochter noch lebt. Ich möchte zu ihr – würden Sie mich begleiten?«
Vollkommen verblüfft erwiderte Riordan: »Ich ... ich habe die Galerie, Elsa – ich kann nicht einfach so nach Australien reisen.« Doch wenn er ehrlich war, musste er zugeben, dass ihm selbst schon der gleiche Gedanke gekommen war. Er hatte ihn jedoch als unvernünftig abgetan.
»Aber in der Galerie ist doch im Augenblick sicher nicht viel zu tun, Riordan. Könnte sich nicht ihr Geschäftsführer ein paar Monate lang allein darum kümmern?«
Riordan sagte ihr nicht, dass Kelvin genau das sowieso schon seit einiger Zeit tat. Wenn er noch einen Assistenten einstellte, konnte sich Kelvin ganz auf das Geschäft konzentrieren. Riordan hatte in den vergangenen Wochen seine Umgebung wieder sehr viel klarer wahrgenommen und hatte sich eingestehen müssen, dass Kelvin ohne ihn wahrscheinlich sogar besser zurechtkommen würde – zumindest, bis er selbst wieder mit vollem Herzen bei der Arbeit sein konnte. Im Augenblick lag sein Herz in einem fernen Land in den Händen einer schönen Zigeunerin ...
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T ara und die Kinder sprangen erschrocken auf,
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