Der Ruf des Abendvogels Roman
bis dahin kaum etwas zu sich genommen und meist einfach von etwas abgebissen, das sie in der Hand mit sich herumtrug.
Victoria schien von dem, was vorgefallen war, nichts mitbekommen zu haben. Tara ertappte sich bei dem Gedanken, dass die Kurzsichtigkeit ihrer Tante in diesem Fall fast ein Segen war. Jetzt stand Victoria auf, beugte sich über den Tisch und erklärte Tara einige der Gerichte, während sie sich eine große Portion Reis und Rinder-Vindaloo nahm. Dann fügte sie von jeder der Soßen einen kleinen Löffel hinzu.
»Das hier ist scharfer Sambal. Diese Sauce wird aus Tomaten, Knoblauch, Tamarindensaft, Chilis und Kokosmilch gemacht. Sanja nimmt natürlich Kokospulver und getrocknete Tomaten. Einige der Gewürze bestellen wir in Darwin auf dem Markt – von dort aus werden sie nach Alice Springs geschickt, was manchmal Monate dauern kann. Ethan holt sie entweder in Alice ab, oder siewerden mit dem Zug nach Wombat Creek geschafft, wo er sie dann für uns abholt.« Sie sah Ethan an, während Nerida ihr etwas Chutney auf den Teller füllte. »Dein Auftauchen heute war wie ein Gottesgeschenk, Ethan – wir hatten kaum noch etwas von diesen Dingen im Haus!«
Tara nahm sich von jedem der Gerichte so wenig, wie es die Höflichkeit gerade noch zuließ. »Wie kommt es überhaupt, Tante Victoria, dass du einen indischen Koch hast?«, fragte sie. »Sehnst du dich nicht manchmal nach der irischen Küche zurück?« Es gelang ihr nur schwer, ihre eigene Sehnsucht nach einem guten irischen Eintopf und einem dunklen Bier zu verbergen.
»Himmel, nein. Ich liebe indisches Essen. Sanja hat schon in Delhi für uns gearbeitet, und als wir hier einigermaßen etabliert waren, hat Tom ihm geschrieben und ihn gefragt, ob er zu uns kommen wollte. Wir haben beide die indischen Gerichte sehr vermisst. Weißt du, auf den Farmen werden normalerweise nur Hammelkeulen serviert – gegrillt, gebraten, als Eintopf und in allen möglichen Variationen, die du dir vorstellen kannst. Nach einer Weile fängt man an, selbst wie eine Hammelkeule auszusehen!«
»Und die Kühe? Isst man die nicht?«
»Doch, schon. Aber wenn wir eine Kuh schlachten, teilen wir sie mit den Nachbarn, weil man das viele Fleisch gar nicht so schnell essen kann, wie es verdirbt. Jedenfalls hatten wir das Glück, dass Sanja gerade arbeitslos war, als Tom ihm schrieb, und dass er kein Hindu ist.«
»Warum ist das ein Glück?«
»Weil Hindus kein Rindfleisch essen«, erklärte Tadd herablassend. »Stellen Sie sich vor, sie wohnten auf einer Rinderfarm und dürften das Fleisch nicht essen!«
»Kühe sind für die Hindus heilige Tiere«, fügte Victoria geduldig hinzu. »Sanja ist auch kein Moslem, aber selbst wenn, würde das auch nichts ausmachen, weil wir keine Schweine halten. Jedenfalls ist er gern hier herausgekommen.«
Tadd lachte spöttisch. »So gern nun auch wieder nicht. Am Anfang hielt er Tambora für einen schrecklichen Ort und hat fast jeden Tag mindestens einmal die Fassung verloren. Ich hätte ihn sofort wieder zurückgeschickt.«
»Das Haus war noch nicht fertig, und an die Trockenheit muss man sich erst gewöhnen«, meinte Victoria. »Aber am meisten hat ihn die Abgeschiedenheit gestört. Er war enttäuscht, weil er die Zutaten für seine Küche nicht selber einkaufen konnte, was er in Delhi immer getan hat. Die Märkte dort bieten ein überwältigendes Angebot, aber es werden auch einige sehr seltsame Dinge verkauft.«
»Was für Dinge denn?«, wollte Jack wissen, der sein Essen unmutig auf dem Teller hin und her schob, jedoch noch keinen Bissen zu sich genommen hatte.
Einen Augenblick lang war Victoria um Worte verlegen. »Also ...« begann sie, wurde jedoch von Tadd unterbrochen. »Ziegenaugen, Tigerkuddeln und Schafsinnereien zum Beispiel«, erklärte er schonungslos.
»Ach, Tadd, hör bitte sofort damit auf, dem Kind solchen Unsinn zu erzählen – du warst doch noch nie in Indien!«, mahnte Victoria und wandte sich dann wieder Jack zu. »Sie essen dort sehr exotische Sachen, auch solche, die für uns sehr gewöhnungsbedürftig sind.«
»Das tun sie hier auch, Tante Victoria«, wandte Tara ein. »Ferris hat mir von einigen Gerichten erzählt, die Jed Harper, der Koch des Great Northern Hotel, auftischt – zum Beispiel Termiten, Ameisen, Wurzeln und Eidechsen!«
»Das kein seltsames Essen«, sagte Nerida, die dabei war, die Wassergläser neu zu füllen. »Meine Leute nennen guten Braten!«
»Aber wir finden es komisch, Mädchen«, meinte
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