Der Ruf des Abendvogels Roman
Ferris ihr das Geld geliehen haben, aber von Ethan hätte ich es mir vorstellen können ... Auch, wenn er nicht den Eindruck macht, als ob er wohlhabend wäre – ich habe gehört, dass er als Kamelführer schon viel Geld verdient hat.«
»Das hat er – aber im Moment geht es ihm sicher so schlecht wie allen anderen auch. Ich habe immer vermutet, dass er der Hauptgeldgeber der Missionsstation war und auch anderswo geholfen hat, wenn er konnte. Er hätte Lottie sicher gern unter die Arme gegriffen, wenn Tom und ich es nicht getan hätten. AberPercy und Ferris ... nein, niemals. Trotzdem, obwohl sie nach außen vorgeben, sie nicht zu kennen, wissen sie nur zu gut, dass ihr Gewerbe eine Menge Leute nach Wombat Creek zieht – natürlich meist Männer, aber die nehmen im Hotel ihre Drinks und kaufen im Laden ein. Ich bezweifle, dass die Stadt ohne Lottie und die Mädchen überhaupt noch existieren würde.«
»Hast du dich über Funk mit ihnen unterhalten, als das Gerät noch funktionierte?«
»Manchmal, aber immer unter irgendeinem banalen Vorwand. Es kann dabei jeder zuhören, und man muss deshalb vorsichtig sein mit dem, was man sagt. Mich betrifft es zwar nicht so, aber Lottie wird es hier sehr schwer gemacht, besonders von den eifersüchtigen Ehefrauen.«
»Welchen Weg sollen wir nehmen?«, fragte Tara, als sie die Bäume hinter sich gelassen hatten.
»Zum großen Felsenriff«, erwiderte Victoria. »Der Weg liegt um diese Tageszeit teilweise im Schatten, und wenn ich sie wieder finde, zeige ich dir ein paar Felszeichnungen, die Tausende von Jahren alt sein sollen.«
Zum Mittagessen waren sie zurück in Tambora. Es gab kaltes Lamm, das Sanja aus Rache mit scharfer Paprikapaste bestrichen hatte, sodass Tara es nicht essen konnte, und indisches ›Roti‹-Brot. Als sie fertig waren, vertieften sich Tara und Victoria in die Rechnungsbücher. Aus den Monaten zuvor gab es nicht viele Eintragungen, aber allem Anschein nach war Ethan tatsächlich seit geraumer Zeit nicht mehr für seine Einkäufe bezahlt worden. Der letzte Eintrag, der Nuggets Lohn betraf, lag fast ein Jahr zurück, und die anderen Männer waren ebenfalls schon einige Monate nicht mehr bezahlt worden. Zu Tadds Ehre stellten die Frauen fest, dass er schon fast ebenso lange kein Geld mehr bekommen hatte wie Nugget.
»Hat Howie Dunn eine Abfindung bekommen?«, fragte Victoria.
»Nur einen Wochenlohn.«
»Und Nerida?«
»Hier ist für Nerida seit einem Jahr nichts mehr eingetragen.«
Victoria war vollkommen entsetzt. Sie ging zu der Schublade hinüber, in der die Kiste mit dem Bargeld aufbewahrt wurde, und fand diese leer.
Tara fürchtete einen Moment, ihre Tante würde ohnmächtig werden, doch Victoria nahm sich eisern zusammen. »Ich habe noch ein bisschen Geld oben in meinem Zimmer«, sagte sie. »Tom hat immer darauf geachtet, dass ich für Notfälle gerüstet bin – und das hier muss man wohl so nennen.« Jetzt gewannen die lange zurückgehaltenen Tränen doch die Oberhand.
Tara nahm sie tröstend in die Arme. »Wir schaffen es schon, Tante Victoria, das verspreche ich dir. Denk immer daran, dass wir Killains sind – wir verstehen es zu kämpfen!«
»Du hast Recht.« Victoria schniefte und gewann langsam ihre Fassung wieder. »Ich habe schon Schlimmeres überlebt, und du genauso. Aber jetzt müssen wir an die Kinder denken – sie brauchen ein Heim und etwas zu essen auf dem Tisch.«
»Wir werden schon nicht verhungern, und wenn wir es wie die Aborigines machen ... Ich will nur Tambora nicht verlieren.«
»Zum Glück schulden wir der Bank kein Geld und verfügen über Rücklagen. Damit müssten wir uns über Wasser halten können, bis wir wieder auf die Beine kommen.«
Die beiden Frauen gingen nach oben, wo Victoria Tara eine kleine Seidentasche holen ließ, die sie zwischen ihrer Wäsche im Schrank versteckt hatte und die, wie sie sagte, ihre Notreserve enthielt. Tara fand die Tasche und gab sie ihrer Tante. Victoria nahm sie mit hinüber zum Bett und leerte ihren Inhalt auf der Decke aus.
»Wie viel ist es?«, fragte sie Tara.
Tara zählte das Geld. »Siebenundzwanzig Pfund und ein paar Münzen.«
Victoria erschrak. »Das kann nicht stimmen. Es müssten fast dreihundert Pfund sein!«
»Bist du sicher?«
»Natürlich bin ich sicher. Ich habe das Geld seit ... seit zwei Jahren nicht mehr angerührt. Wir hatten eine schlechte Saison, und ich musste hundert Pfund herausnehmen, um Nahrungsmittel zu kaufen – aber ich habe sie wieder
Weitere Kostenlose Bücher