Der Ruf des Abendvogels Roman
stirnrunzelnd.
»Das tut er auch – aber ich möchte ihn heute oder morgen noch nicht in die Pflicht nehmen.«
»Es gibt aber viel zu tun, das nicht warten kann«, beharrte Tadd.
»Der Umzug hierher war eine ziemliche Umstellung für ihn.«
Wieder runzelte Tadd die Stirn.
»Der Junge muss erst einmal wieder zu sich selbst finden«, sagte Victoria bestimmt. »Besonders nach dem ... der langen Reise. Gib ihm doch eine Woche, um erst einmal anzukommen!«, fügte sie hinzu und beobachtete den Verwalter dabei scharf.
Tara erkannte, dass ihre Tante Tadd nichts über ihre Situation erzählt hatte, dass dieser sich aber seine eigenen Gedanken machte. Außerdem schien er zu denken, dass sie und ihre Tante zu nachsichtig seien mit Jack. Um zu vermeiden, dass er den Jungen selbst ansprach, beschloss sie, ihm von Jacks Kummer zu erzählen.
Ein Blick zu Hannah hinüber sagte ihr, dass die Kleine unruhig und müde war. Meist begann sie dann, nach ihrer Mutter zu rufen, und Tara wollte verhindern, dass irgendjemand außer ihrer Tante und Ethan erfuhr, dass sie nicht die leibliche Mutter der Kinder war.
»Nerida, würdest du Hannah hinaufbringen und versuchen, sie schlafen zu legen?«, bat sie.
»Ja, Missus.«
Tara küsste die Kleine, und Nerida nahm sie mit sich fort. Tara war dem Aborigines-Mädchen sehr dankbar dafür, dass es sich anscheinend gern um Hannah kümmerte, und es war deutlich zu sehen, dass Nerida Hannah in der kurzen Zeit seit ihrer Ankunft schon sehr lieb gewonnen hatte.
Als die beiden den Raum verlassen hatten, meinte Tara: »Es gibt einen Grund dafür, warum ich so nachsichtig mit Jack bin, Mr. Sweeney. Er hat vor kurzem seinen ... Vater verloren.«
Der Verwalter war sichtlich betroffen.
Tara wechselte einen raschen Blick mit ihrer Tante, bevor sie sich wieder Tadd Sweeney zuwandte. »Das Schiff, mit dem wir gekommen sind, ist vor der Küste gesunken – und Jacks Vater istertrunken. Wie Sie sich sicher vorstellen können, war das für die Kinder sehr schlimm, besonders für Jack. Deshalb sehe ich im Moment darüber hinweg, wenn er sich anders benimmt als ... normal wäre. Sie haben sicher auch bemerkt, dass er sogar mir gegenüber sehr verschlossen ist.«
Tadd hatte sich schon Gedanken darüber gemacht, wo der Vater des Jungen sein mochte, jedoch noch keine Gelegenheit gehabt, Victoria danach zu fragen. Und ihm war auch aufgefallen, dass Jack sich Tara gegenüber seltsam verhielt. »Das tut mir Leid, Mädchen«, sagte er. »Ich hatte keine Ahnung, dass Sie Witwe sind. Es ist wirklich eine Tragödie.«
Seine Worte stachen Tara ins Herz. Michael und Maureen zu verlieren, war schlimm genug gewesen, aber der Gedanke an Garvie, der wahrscheinlich hingerichtet worden war, war ihr unerträglich. Mühsam kämpfte sie gegen die Tränen an, die ihr in den Augen brannten. »Ich möchte nicht, dass es allgemein bekannt wird – alles, was ich will, ist, mich mit den Kindern so gut wie möglich weiter durchzuschlagen.«
Tadd nickte. Er bewunderte Tara für ihren Mut und ihren Entschluss, mit so kleinen Kindern ganz von vorn anzufangen.
Nach dem Frühstück ließ Tadd Victoria und Tara für ein paar Minuten allein, um sich in der Küche ein Lunchpaket abzuholen.
»Hättest du Lust, auszureiten, bevor es zu heiß ist, Tante Victoria?«
»Ja – aber wolltest du nicht im Garten arbeiten?«
»Damit kann ich später weitermachen, vielleicht kurz vor Sonnenuntergang, wenn es etwas kühler wird«, erwiderte Tara.
Tadd kam herein, um sich zu verabschieden. Sein Lunchpaket sah aus, als würden davon auch drei Männer problemlos satt werden.
»Meine Tante und ich reite heute Morgen aus, Mr. Sweeney – wenn Sie mir zeigen würden, wo die Sattelkammer ist, würde ich für uns zwei Pferde satteln.«
»Himmel, Tara, bitte nennen Sie mich doch Tadd! Diesesständige ›Mr. Sweeney‹ klingt wie die Anrede für einen Banker, und Sie wissen doch, wie beliebt die im Augenblick sind!« Sein Ton war freundlicher als jemals zuvor, und er zwinkerte ihr vertraulich zu.
Tara konnte nicht anders, als auf seine Bitte einzugehen. »Also gut, dann eben Tadd.«
»Kommen Sie – ich zeige Ihnen Lori, Victorias Stute.«
»Ach, ist das schön«, meinte Victoria, die hoch aufgerichtet im Sattel saß, als sie im von Sonnenstrahlen durchbrochenen Schatten der Eukalyptusbäume um das Haus und die angrenzenden Gebäude herumritten. »Ich kann gar nicht glauben, dass ich so lange nicht mehr auf einem Pferd gesessen habe.«
Tara
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