Der Ruf des Abendvogels Roman
ihrer Tante hinüber. Victoria jedoch war von seiner Reaktion anscheinend kaum überrascht, ebenso wenig wie Nugget oder die anderen Männer. Verlegen standen sie auf, um zu gehen.
Plötzlich begriff Tara, warum sie sich immer hinter ihreUnterkunft zurückzogen. »Bitte, setzt euch wieder«, sagte sie. »Es ist viel zu früh, um hineinzugehen.«
Nugget wirkte unsicher und sah Victoria an. Sie bedeutete ihm mit einer Handbewegung, sich wieder zu setzen. »Ich möchte euch etwas sagen«, erklärte sie. »Dies ist das erste Mal seit Tagen, dass wir alle zusammen sind, weil ihr so beschäftigt wart.« Sie stand auf. »Vor ein paar Tagen habe ich herausgefunden, dass ihr Männer seit langer Zeit keinen Lohn mehr erhalten habt, besonders du, Nugget. Ich war erschrocken und ärgerlich, aber vor allem schäme ich mich. Auch wenn es schwer zu glauben ist, aber ich habe wirklich nichts davon geahnt, dass die Farm so schlecht dasteht. Ich weiß, wie hart ihr alle arbeitet, und ich kann nur sagen, es tut mir schrecklich Leid, dass ihr nicht dafür bezahlt worden seid.«
»Das ist nicht Ihre Schuld, Missus«, erwiderte Nugget.
»Ich bin trotzdem dafür verantwortlich, Nugget. Aber vielen Dank für deine Großzügigkeit. Ich möchte, dass ihr Folgendes wisst: Ich werde euch alles geben, was ich euch schulde, und wenn ich die Farm dafür verkaufen muss. Aber ich hoffe, dass es dazu nicht kommen wird. Ich weiß, dass Tambora genauso euer Zuhause ist wie meines, und ihr seid alle sehr loyal gewesen. Ihr ahnt gar nicht, wie dankbar ich euch dafür bin!« Sie verstummte einen Augenblick und rang sichtlich um Fassung. Dann fuhr sie fort: »Ich weiß noch nicht, auf welche Weise, aber ich möchte jedem, der es will, die Möglichkeit geben, sein Geld zu nehmen und zu gehen. Ich würde es keinem übel nehmen. Hier draußen hat jeder zu kämpfen, aber vielleicht zieht es euch ja eher in die Stadt oder irgendwo anders hin ...«
»Ich bin hier zu Hause«, meinte Nugget schlicht. »Ich bleibe.«
»Bevor du so etwas sagst, Nugget, muss ich euch sagen, dass ich euch im Moment nicht bezahlen kann. Ich habe absolut kein Geld und weiß noch nicht, wann sich das ändern wird.«
»Nugget braucht kein Geld, Missus!«
»In der Stadt gibt es keine Arbeit«, ergänzte Bluey. »Hierhaben wir ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen. Ich bleibe, bis es wieder aufwärts geht. Die Regenzeit kommt ganz bestimmt, Missus, und dann wird alles gut.« Er sah Charlie auffordernd an.
»Ich bleibe auch, Missus«, sagte dieser und blickte seinerseits auf Karl, der jedoch stumm blieb.
Victoria wandte sich an den Jungen. »Ich weiß, dass du wie ein erwachsener Mann arbeitest, Karl, und so sollte ich dich auch bezahlen. Wenn keiner von den anderen dagegen etwas einzuwenden hat, bekommst du eine Lohnerhöhung, sobald es uns wieder etwas besser geht.«
Die Männer nickte zustimmend.
Karl blickte ungläubig auf. »Werden Sie das wirklich tun, Missus? Bezahlen Sie mir denselben Lohn wie einem richtigen Mann?«
»Ich bezahle meinen Männern, was sie wert sind ...« Sie unterbrach sich mit verlegenem Lächeln. »Normalerweise, meine ich.«
Die Männer lachten. »Das wissen wir, Missus!«
Karl strahlte jetzt förmlich. »Hey, vielen Dank, Missus Victoria. Ich werde verdammt hart arbeiten!« Stolz wandte er sich an seinen Vater. »Hast du das gehört? Ich bekomme einen vollen Lohn!«
»Das ist sehr großzügig, Missus!«, sagte Charlie.
»Ich gehe jetzt davon aus, dass die Lage besser wird, Charlie. Wenn nicht, und wenn ich verkaufen müsste, würde ich dieses Land eher euch allen schenken, als dass es unter Preis an irgendjemand anderen fällt.« Ethan hatte ihr Telegramm von Wombat Creek aus abgeschickt, doch Victoria wollte den Männern gegenüber jetzt noch nichts davon erwähnen. Erst musste sie die Antwort von William Crombie in Händen halten. Sie wandte sich wieder an Nugget. »Ich gehe jetzt für ein paar Minuten zu Tadd hinüber, um mit ihm zu sprechen. Erzählt doch Tara ein wenig von eurer Zeit beim Arabana-Volk! Ich habe diese Geschichten immer gern gehört.«
Nugget war geschmeichelt, Tara und den Kindern von der ›Traumzeit‹ berichten zu können, die ihn geprägt hatte.
Tara ahnte, dass ihre Tante Tadd auf das fehlende Geld ansprechen wollte. Während der Tage zuvor war er ihr aus dem Weg gegangen, indem er früh fortging und spät heimkam, sodass sie die Aussprache immer wieder hatte verschieben müssen. Doch jetzt würde er einiges zu
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