Der Ruf des Abendvogels Roman
werden. Sie hatte zwar niemanden gesehen, aber sie spürte, dass jemand da war. Außerdem hatte sie bemerkt, dass Nerida, wenn sie ihr ein Glas Wasser brachte, zu den Bäumen hinübersah. »Wer ist dort drüben?«, fragte sie schließlich.
Nerida blickte erschrocken und schuldbewusst zu Boden.
»Ich weiß, dass mich jemand beobachtet«, sagte Tara, während sie weitergrub. »Ich wünschte nur, diejenigen, um die es geht, würden kommen und mir helfen!« Nach dem ersten Tag hatte sie widerstrebend Handschuhe angezogen. Ihre Hände waren nun fast abgeheilt, aber ihr Rücken schmerzte so, dass sie sich kaumaufzurichten vermochte. Der Garten nahm zwar langsam Formen an, doch es war immer noch sehr viel zu tun.
»Die Stammesfrauen sind neugierig, Missus«, meinte Nerida verlegen. »Wollen nicht stören. Sie mögen Ihren Hut und Ihr Kleid.«
»Meinst du, sie würden mir helfen, Nerida? Ich kann sie zwar nicht bezahlen, aber ich könnte ihnen etwas anderes geben, Eier zum Beispiel.«
»Sie wollen keine, Missus. Sie finden Vogeleier ...«
»Und wie wäre es mit etwas anderem? Ein Band für ihre Haare, ein Schaltuch oder irgendeinen hübschen Schmuck?« Sie dachte an etwas, das nicht zu teuer war, wie etwa Armbänder aus Aufziehperlen oder Ähnliches. Unglücklicherweise hatte sie all die schönen Sachen, die man ihr auf dem Schiff für ihre Kartenlegerei gegeben hatte, verloren, als die Emerald Star untergegangen war. Jetzt hätten sie ihr gute Dienste leisten können.
Nerida strahlte. »Sie mögen hübsche Sachen, Missus!«
Tara arbeitete weiter, während Nerida losging, um mit ihren Freundinnen zu sprechen. Kurz darauf erschien sie mit drei schüchternen Aborigines-Frauen, die im Outback ›Lubras‹ genannt wurden. Sie waren viel älter als Nerida und sahen aus wie reinblütige Aborigines mit sehr dunklen Gesichtern, breiten Nasen und krausem Haar. Ihre Arme und Beine waren ebenso dünn wie Neridas, doch ihre Bauch- und Brustpartie war sehr kräftig. Sie trugen fleckige Umhänge, aber keine Schuhe.
»Könnten Sie zeigen, was Sie ihnen geben wollen, Missus? Dann arbeiten sie.«
»Natürlich.« Tara ging ins Haus und suchte zwei Haarbänder heraus, die sie für Hannah gekauft hatte, und zwei Schaltücher, die Victoria nicht mehr trug. Victoria hatte nur noch sehr wenig Schmuck. Alles war im Lauf der Jahre verkauft worden, wenn es der Farm schlecht ging. Doch sie fand noch einige nicht sehr wertvolle alte Ketten und Armbänder sowie zwei Broschen, diesie gern abgab. Tara brachte sie hinaus zu den Frauen, die in ihrer Sprache lebhaft miteinander redeten.
»Wenn ich euch das hier gebe, helft ihr mir dann, den Garten umzugraben?«, fragte sie und hielt ihnen die Geschenke hin. Die Frauen sprachen jetzt noch aufgeregter miteinander.
»Sprechen sie vielleicht ein paar Worte Englisch?«, erkundigte Tara sich bei Nerida. »Können sie mich verstehen?«
»Nicht sehr gut, Missus. Yani hat einmal auf einer Missionsstation gewohnt, aber nicht lange.«
»Wie heißen sie?«
»Mona, Yani und Mumu«, erwiderte Nerida.
»Werden sie für mich arbeiten?«, fragte Tara, während sie den Frauen lächelnd demonstrierte, wie man die Dinge trug, die sie ihnen gegeben hatte. Sie fand zwar, dass diese sehr seltsam damit aussahen, doch die Frauen selbst schienen sehr zufrieden.
»Sie arbeiten, Missus!«, meinte Nerida.
»Könntest du ihnen erklären, was ich vorhabe, während ich noch mehr Gartengeräte holen gehe?«
»Ja, Missus.«
Als Tara mit den Geräten zurückkam, ließ Nerida sie allein. Die Frauen redeten miteinander und blickten oft zu Tara hinüber, unternahmen aber keinen Versuch, sich mit ihr zu verständigen. Mona hatte die Bänder in ihre Haare geflochten, Yani und Mumu trugen die Schals und Ketten um ihre Hälse und die Broschen an ihren Umhängen. Sie hatten weniger als eine Stunde gearbeitet, als Tara ihnen bedeutete, dass sie ins Haus gehen und ihnen allen etwas zu trinken holen würde. Sie dachte, dass die Frauen härter arbeiten würden, wenn sie zufrieden waren. Sie war sich jedoch nicht sicher, ob sie sie verstanden hatten. Deshalb bemühte sie sich, ihnen ihre Absicht durch Gesten zu vermitteln. Die Frauen hörten auf zu arbeiten und sahen ihr nach. Als sie durch die Hintertür ins Haus ging, lächelte und winkte sie und rief, dass sie gleich zurück sei. Als sie mit den gefüllten Wassergläsern wiederkam, waren die Frauen fort.
Tara hätte vor Enttäuschung weinen können. Sie schickte Nerida hinterher,
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