Der Ruf des Abendvogels Roman
guter Zuhörer und der Kummerkasten für die meisten der einsamen Frauen im Umkreis von ein paar Hundert Meilen, also muss mein Rat einfach gut sein!«, meinte er.
Der Anflug eines Lächelns huschte über Taras Gesicht, doch sie schüttelte den Kopf. »Bilden Sie sich nur nichts darauf ein – die einzige Alternative dieser einsamen Frauen sind ihre Schafe«, erwiderte sie und sah mit Genugtuung, wie das Grinsen von seinem Gesicht verschwand.
Er wurde plötzlich ganz ernst. »Tara, ich weiß, dass unsere erste Begegnung nicht gerade unter einem guten Stern stand – aber wenn Sie gern etwas mit mir besprechen möchten ...« Jetzt wirkte er regelrecht verlegen. »Ich höre Ihnen gern zu, und wenn ich Ihnen helfen kann, dürfen Sie immer auf mich zählen – übrigens nicht nur, weil Sie Victorias Nichte sind!«
»Danke!« Tara blickte lächelnd zu ihm auf. »Ich habe meine Meinung über Sie mittlerweile auch geändert!«
Erfreut erwiderte er ihr Lächeln. »Ich habe Neuigkeiten, die Sie vielleicht etwas aufheitern werden.«
»Das könnte ich jetzt gut gebrauchen. Worum geht es?«, fragte sie.
»Victoria bat mich, Ihnen zu sagen, dass Percy Everett ihr über Funk eine Nachricht übermittelt hat. Es ist eine Antwort auf Ihr Telegramm an Sorrel Windspear gekommen.«
Taras Miene hellte sich etwas auf. »Und was hat sie geschrieben?«
»Dass sie Victoria gern so lange bei sich aufnimmt, wie es nötig ist. Sie war enttäuscht, dass Sie nicht mitkommen, aber sie versteht es.«
»Ach, ich bin so froh! Ich muss zugeben, mich interessiert wirklich, wie sie in Alice zurechtkommt. Sie war nicht gerade begeistert von der Idee, in das Outback zu ziehen.«
»Percy hatte noch eine andere Nachricht, aber Victoria konnte sie wegen der schlechten Übertragung nicht ganz verstehen.«
»Hat sie denn gesagt, worum es ungefähr ging?«
»Darum, dass morgen zwei Besucher hier herauskommen sollen«, erklärte Ethan.
»Wirklich? Wir erwarten aber doch überhaupt niemanden. Hat Percy nicht gesagt, wer es ist?«
»Ich nehme an, dass er es getan hat. Aber Victoria konnte ihn wegen der Störungen nicht verstehen. Ich denke, wir werden es sicher bald herausfinden.«
»Es ist sicher ein Nachbar!«
Ethan schüttelte den Kopf. »Als ich die Post ausgeliefert habe, hat keiner von ihnen erwähnt, dass er hierher kommen wolle!«
Ein gellender Schrei riss Tara am nächsten Morgen aus dem Schlaf. Für einige Augenblicke war sie nicht sicher, ob sie noch träumte. Durch die geöffneten Balkontüren starrte sie auf den Himmel, der seltsam rosa-grau gefärbt war, und stellte fest, dass der Wind aufgefrischt hatte. Wieder ertönte ein Schrei, und diesmal wusste sie sofort, dass es Hannah war, die schrie. Hastig sprang sie aus dem Bett, eilte durch den Flur und fand zu ihrer Beunruhigung Hannahs Bett leer. Draußen hörte sie weitere Schreie und eilte zur Treppe. Hannah stand am Fuß der Treppe, und führt vor lauter Angst einen wilden Tanz auf. Nerida kam den Flur entlang. Obwohl Tara nur einen kurzen Blick auf sie warf, sah sie sofort, dass das Mädchen leichenblass war.
»Was ist denn nur passiert, Hannah?«, rief sie.
Die Kleine war noch im Nachthemd und hielt ihren Teddybären fest an sich gepresst. Sie begann, die Stufen rückwärts wieder hinaufzusteigen, eine nach der anderen, den Blick unverwandt auf den Fußboden vor der Haustür gerichtet. Von oben amGeländer, wo Tara stand, war auf den Fliesen nichts anderes auszumachen als wirbelnder Staub und ein paar trockene Blätter. Doch irgendetwas schien Hannah furchtbar zu ängstigen.
»Ist es eine Maus?«, fragte Tara und begann, die Stufen hinunterzugehen. »Keine Sorge, sie tut dir nichts, Hannah.«
Erst als Tara auf den untersten Stufen angekommen war, bemerkte sie, dass der Boden vor der Tür fast vollständig von hüpfenden Insekten bedeckt war.
»Oh mein Gott!«, rief sie entsetzt. »Die Heuschrecken sind da!«
21
B itte bring Hannah nach oben, Nerida«, rief Tara, während sie den Besen ergriff, der neben der offenen Haustür stand. Vergeblich versuchte sie, die Heuschrecken nach draußen zu kehren, bevor sie das ganze Haus in Besitz nahmen. Schon bald jedoch erkannte sie, dass all ihre Bemühungen vergeblich waren, und schlug hastig die Tür zu.
»Heiliger Jesus«, murmelte sie wütend, als sie feststellte, dass immer noch weitere Insekten unter der Haustür durchkrabbelten.
Verwundert musste Tara feststellen, das Nerida sich noch nicht von ihrem Platz fortbewegt hatte.
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