Der Ruf des Abendvogels Roman
hatte inzwischen begriffen, dass Elsa Taras Mutter war, doch ihn interessierte viel mehr, um wen es sich bei dem Mann handelte. Seine Kleidung war teuer und gut geschnitten, er musste also wohlhabend sein.Da Tara den Fremden nicht gerade sehr herzlich begrüßt hatte, durfte er wohl annehmen, dass sie nicht zusammengehörten. War er vielleicht früher einmal ihr Liebhaber gewesen? Diesen Gedanken fand Ethan seltsam beunruhigend.
»Du hast jedes Recht, wütend zu sein, Tara«, stellte Elsa ruhig fest. »Ich verdiene deinen Zorn. Ich weiß, dass ich im Unrecht war, und es vergeht kein Tag, an dem ich nicht bereue, was geschehen ist. Du warst unschuldig und hast nichts Unrechtes getan, und ich bin hier, weil ich dich um Verzeihung bitten will.«
Bevor Tara antworten konnte, rief Victoria vom oberen Balkon: »Bring unsere Besucher doch bitte herein, Tara!«
Elsa schaute mit tränenfeuchten Augen zu ihr hinauf und winkte.
Zuerst erkannte Victoria sie nicht. »Wer ist es denn?«
Als Tara nicht antworte, rief Elsa selbst hinauf: »Victoria, ich bin es, Elsa!«
»Oh Himmel!«, sagte Victoria voll freudiger Überraschung. »Elsa! Wie schön!«
Sie verließ den Balkon, und Elsa wusste, dass sie herunterkommen würde. Sie wandte sich an Riordan, und auf ihren Zügen lag ein Ausdruck tiefer Besorgnis. Tara sah es und wusste sofort, dass irgendetwas nicht stimmte. Ihr war auch aufgefallen, dass ihre Mutter ihren Vater mit keinem Wort erwähnt hatte.
Rex Crawley stieg aus seinem Wagen. »Bekommt ein Mann hier keine Tasse Tee, nachdem er stundenlang hinter dem Steuer gesessen hat?«
»Du solltest im Moment überhaupt nicht fahren«, meinte Ethan vorwurfsvoll.
»Ich hatte ein Angebot, das ich nicht ablehnen konnte.« Rex blickte mit bedeutungsvoll gehobenen Brauen zu Riordan und Elsa hinüber. Sie hatten ihn ohne Zweifel fürstlich dafür bezahlt, dass er sie nach Tambora chauffiert hatte. »Außerdem bin ich sicher, dass die Leute hier draußen endlich wieder eine anständige Postauslieferung erwarten!«
»Ihre Post wird schnell und zuverlässig geliefert, und sie brauchen sich nicht einmal mit Forderungen nach Kuchen und Tee oder Stärkerem auseinander zu setzen!«
Rex versetzte ihm gut gelaunt einen Rippenstoß. »Für einen so schnellen und guten Service sind sie mehr als bereit, dem Fahrer eine Erfrischung anzubieten!«
Ethan grinste. »Die brauchen sie oft genug selbst, nachdem sie dich und dein altes Vehikel aus dem Sanddünen gezogen haben. Normalerweise sehen deine Passagiere etwas unwohler aus, nachdem sie mit dir gereist sind.«
Elsa fühlte sich durch Ethans Bemerkung anscheinend beleidigt und wirkte etwas erschüttert. Aber Ethan war sich nicht sicher, ob es an Rex’ verrückter Fahrweise lag oder an dem nicht eben warmherzigen Empfang durch ihre Tochter. Der Gentleman neben ihr sah auch ein wenig verunsichert aus. Ethan vermutete allerdings, dass es eher daran lag, Tara in den Armen eines anderen vorgefunden zu haben hatte.
Ethan wandte sich an Tara. »Ich denke, wir gehen uns besser erst einmal säubern!«
Sie nickte stumm.
In diesem Moment rief Victoria von der Hintertür aus: »Kommt doch um Himmels willen herein! Warum steht ihr bloß alle im Regen herum?«
22
T ara nahm sich absichtlich viel Zeit zum Baden. Da die Regen- wasserbehälter von der immer noch andauernden Sintflut stetig gefüllt wurden, hatte sie kein ganz so schlechtes Gewissen wie sonst, das Wasser zu verschwenden. Sie fühlte sich absolut nicht gewappnet, ihrer Mutter gegenüberzutreten. Auch verspürte sie nicht die geringste Lust, schmerzhafte Dinge wieder aufzurühren, die sie während der vergangenen fast zwölf Jahre irgendwo in ihrem Innern begraben hatte. Und ganz sicher hatte sie nicht die Absicht, ihrer Mutter zu vergeben, egal wie oft Elsa sich dafür entschuldigen mochte. Noch immer schmerzte die Erinnerung, dass diese ihr nicht geglaubt hatte, von Stanton Jackson vergewaltigt worden zu sein.
Zusammen mit all dem anderen, das um sie herum geschah, war es ihr einfach im Moment zu viel.
Allein die Sache mit Ethan ... Sie musste ständig an diese Woge der Leidenschaft denken, die urplötzlich über sie beide hereingebrochen war. Die reine Erinnerung daran ließ sie schon wieder von Kopf bis Fuß erschauern, weil jemand, bei dem sie es am allerwenigsten erwartet hätte, ein solch intensives, überwältigendes Gefühl in ihr auslösen konnte. Obwohl sie es für unwahrscheinlich hielt, dass es sich jemals wiederholen
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