Der Ruf des Abendvogels Roman
war als bei ihrer letzten Begegnung und ein wenig müde wirkte.
Auch Riordan fand, dass Tara in ihrem locker fallenden Kleid jung und unverdorben wirkte, ganz anders als die Verführerin, die damals am Lagerfeuer die Leidenschaft der Zigeuner angestachelt hatte. Jetzt, wo er wusste, warum sie fortgelaufen war und dass sie ihm die Wahrheit gesagt hatte, fühlte er tiefe Scham angesichts seines eigenen Verhaltens ihr gegenüber. Er hatte mittlerweile verstanden, dass sie Opfer tragischer Umstände geworden war und niemand das Recht hatte, sie zu verurteilen, nur weil sie schön, anziehend und sinnlich war. Doch – würde sie ihm sein unhöfliches und ungerechtfertigtes Benehmen verzeihen? Falls er den Blick, mit dem sie ihn bedachte, als Antwort auf diese Frage werten musste, gab es wenig Grund zur Hoffnung.
Tara starrte ihn kalt an. Sie war über seine Anwesenheit etwa so erfreut wie ein Viehtreiber über eine King-Brown-Schlange in seiner Satteltasche. Doch Tambora war das Haus ihrer Tante, und er war Victorias Freund, wie sehr sie ihn auch hassen mochte.
Riordan senkte den Kopf und ging zurück auf den Balkon. Sie hatte ihm nicht zu sagen brauchen, dass er ihr nicht willkommen war – er hatte es auch so deutlich genug begriffen. Ohne ihr Verhalten zu bedauern, wandte sich Tara zum Gehen.
»Warte, Tara!«, sagte Elsa so leise, dass es neben dem Trommeln der Regentropfen auf das Blechdach kaum zu verstehen war. »Ich muss dir ... etwas sagen.«
Tara machte kehrt und wappnete sich innerlich. Sie ahnte, dass es schlechte Neuigkeiten waren, und sie wusste ebenfalls, dass es um ihren Vater gehen musste. Doch sie versuchte, sich ihre Furcht nicht anmerken zu lassen. Vor ihrem geistigen Auge sahsie ihn krank und schwach, ganz anders als den kraftvollen Mann, den sie zurückgelassen hatte. Mit einiger Willensanstrengung verbannte sie diese Vision aus ihren Gedanken. Wenn er verlangte, dass sie nach Hause kam, würde sie sich weigern.
»Du hast sicher nichts zu sagen, was ich hören will«, erklärte sie abwehrend.
»Bitte hör deiner Mutter zu!«, bat Victoria, und irgendetwas in ihrem Ton machte Tara Angst.
»Dein Vater ...«, Elsa verstummte; Victoria nahm ihre Hand und drückte sie.
»Wenn Vater krank ist und möchte, dass ich nach Hause komme, Mutter – ich werde nicht zurückgehen!«
Elsa wirkte jetzt traurig, ja zutiefst bekümmert, und plötzlich rechnete Tara mit dem Schlimmsten. Sie wollte ihrer Mutter nicht länger zuhören, sondern nur noch fliehen. Rasch wandte sie sich wieder um.
»Er ist nicht krank, Tara!«, sagte Elsa schnell. Tara blieb kurz vor dem Geländer im Flur stehen, die Augen fest geschlossen. So wütend sie auch auf ihren Vater war, sie wollte nicht glauben, dass er ...
»Er ist vor ein paar Monaten gestorben.« Elsas blassgrüne Augen standen voller Tränen, als sie zu ihrer Tochter hinausging. Sie streckte die Hand aus, um Tara tröstend zu berühren, überlegte es sich jedoch im letzten Moment anders. »Er wusste, dass er dir Unrecht getan hatte, Tara – und ich wusste es auch. Er war nie wieder derselbe, nachdem du fortgegangen bist ... Wärst du doch nur nach Hause gekommen!«
Tara fühlte sich vollkommen elend. »Gibst du mir etwa die Schuld an Vaters Tod?« Sie hatte ihrer Mutter noch immer den Rücken zugewandt und kämpfte gegen einen wahren Sturm von Emotionen an, der sich gewaltsam Bahn zu brechen drohte. Sie hätte ihre Mutter am liebsten absichtlich verletzt und Elsa zu verstehen gegeben, dass sie keine Schuld am Leiden ihres Vaters traf. Sie selbst hatte genug gelitten. Doch gleichzeitig wünschte daskleine Mädchen in ihr sich nichts sehnlicher, als dass ihre Mutter sie in die Arme nehmen und sie trösten sollte.
Aber Elsa war nie sehr gefühlvoll gewesen. Zärtlichkeit hatte Tara immer nur bei den Kindermädchen erfahren.
»Natürlich gebe ich dir nicht die Schuld!« Elsa berührte sie ganz leicht am Arm, doch sie zuckte zusammen, als habe jemand sie mit einem weißglühenden Eisen verbrannt. »Er hat getrauert, als seist du ...« Elsa sprach das Wort nicht aus, doch es war gewesen, als sei Tara gestorben, zumindest hatten sie es beide so empfunden. »Es war sein letzter Wunsch, dass du erfahren solltest, wie Leid es ihm tat, an dir gezweifelt zu haben. Ich musste dich finden, musste es dir sagen ...«
Tara zitterte am ganzen Körper, als sie sich langsam umwandte. »Wenn du willst, dass ich dir verzeihe, Mutter«, stieß sie mit Tränen in den Augen leise
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