Der Ruf des Abendvogels Roman
wusste, dass Tadd ein Lügner war, misstraute sie seinen Worten grundsätzlich und hoffte, er werde sich irgendwann in seinen eigenen Lügengespinsten verfangen.
»Meine Tante erzählte mir, dass Tadd dich gescholten hat, weil du angeblich die Hunde zu sehr verwöhnst«, sagte sie sanftund setzte sich auf den Bettrand, nachdem sie Jack bequem hingelegt hatte. Mellie lag neben dem Bett und weigerte sich, von Jacks Seite zu weichen. Voller Sorge beobachtete sie jede seiner Bewegungen mit ihren freundlichen, braunen Augen. »Bist du deshalb davongelaufen, Jack? Weil Tadd dich angeschrien hat?«
Jack wandte den Kopf ab.
Tara fürchtete, er werde sich wieder in sich selbst zurückziehen, und das durfte nicht sein! Während der letzten Tage waren sie sich näher gewesen als jemals zuvor – es war einfach wunderbar gewesen, und sie wollte nicht, das sich daran etwas änderte.
»Ich bin nicht böse auf dich, Jack. Wenn man ein Tier dadurch verwöhnt, dass man ihm Liebe und Zuwendung schenkt, dann trifft mich sehr viel mehr Schuld als dich.«
»Die Welpen wollten doch nur spielen«, sagte der Junge leise. »Aber Tadd hat Shellie geschlagen, und als ich ihm sagte, er soll es nicht tun, hat er den Arm gehoben, um ... mich zu schlagen.«
Tara erschrak, und kalte Wut stieg in ihr auf. Wie konnte Tadd es wagen!
»Mellie hat ihn angeknurrt. Sie wollte mich nur beschützen, aber Tadd war sehr zornig. Er trat nach ihr, deshalb habe ich sie zu mir gerufen. Er wollte, dass sie zurückkam, aber sie hat nicht auf ihn gehört. Da ist er noch wütender geworden ...« Jack liefen heiße Tränen über die Wangen.
»Oh Jack, keine Angst, das kommt alles wieder in Ordnung – ich verspreche es dir!«, sagte Tara tief erschüttert.
»Aber sag ihm nichts!« Jack richtete sich schluchzend auf. »Sonst wird er wieder wütend auf mich!«
Tara hätte Tadd am liebsten eine ganze Menge gesagt. Sie presste die Lippen zusammen und versuchte mühsam, sich zu beherrschen.
»Bitte!«, flehte Jack, und in seinen braunen Augen spiegelte sich nackte Angst.
Tara wollte vermeiden, dass er sich noch mehr aufregte – erhatte wahrhaftig genug durchgestanden. »Gut, Jack, ich werde erst einmal nichts sagen.«
»Versprochen?«
»Ich gebe dir mein Wort!«
Erleichtert ließ sich Jack in die Kissen zurücksinken, wandte den Kopf ab und schloss die Augen.
Tara litt mit ihm, und sie war furchtbar zornig auf Tadd. Der Verwalter wusste ganz genau, dass der Junge vor kurzem seinen Vater verloren hatte, wenn er auch vom Verlust der Mutter nichts ahnte – und dass es Jack ein wenig Freude bereitet hatte, mit Mellie und den Welpen zusammen zu sein. Und trotzdem verhielt sich Tadd so grausam! Tara musste sich sehr beherrschen, um nicht auf der Stelle eine Viehpeitsche zu holen und ihn zur Rede zu stellen. Tadd würde wirklich eine Menge Antworten geben müssen ...
»Ich bringe dir gleich etwas zu essen herauf, Jack«, sagte sie und bemühte sich um einen möglichst munteren Ton. »Danach kannst du dich ausruhen.«
»Ich bin nicht sehr hungrig.«
»Dann vielleicht später!« Tara stand auf und ließ ihn allein, damit er schlafen konnte.
Unten angekommen, vermochte sie die Tränen nicht länger zurückzuhalten.
»Wie geht es Jack?«, fragte ihre Mutter.
Tara schüttelte den Kopf und wischte sich die Tränen ab, die ihr langsam über die Wangen liefen. »Ich könnte Tadd Sweeney mit meinen eigenen Händen erwürgen«, sagte sie und stellte dankbar fest, dass dieser nirgends zu sehen war. Sonst wäre sie in große Versuchung geraten, das Versprechen, das sie Jack gerade erst gegeben hatte, zu brechen.
»Aber er hat den Jungen doch gefunden, nicht wahr?«
»Ja, durch einen seltsamen Zufall. Ich frage mich, warum er so genau wusste, wo er suchen musste!«
»Wahrscheinlich ist er den Spuren gefolgt, genau wie es dieser Afghane getan hat.«
»Das hat er auch behauptet – und auch, dass Mellie ihn zu Jack geführt hat.«
»Na, dann hast du ja deine Antwort.«
»Da bin ich nicht so sicher, Mutter.«
Elsa war zutiefst verwirrt. »Weißt du denn inzwischen, warum der Junge überhaupt fortgelaufen ist?«
»Ja – weil Tadd ihm Angst gemacht hat. Er hat die Welpen trainiert, und die junge Hündin war ungehorsam. Er wurde wütend, auf sie, und Jack hat sich eingemischt. Tadd wollte daraufhin Jack ebenfalls schlagen, Mellie knurrte ihn an ...«
Jetzt verstand Elsa. »... was ihn dann noch wütender werden ließ, weil er es als Verrat empfand, dass Mellie Jack
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