Der Ruf des Abendvogels Roman
wusste, dass er ertrinken würde, sobald er den Vorsprung in der Schachtwand losließ.
Tadd fluchte. Also würde er hinuntersteigen und den Jungen herausholen müssen.
Tara schaffte es nicht, an der felsigen Wand der Klippe hinaufzuklettern, und Saladin schüttelte lebhaft den Kopf, um ihr zu bedeuten, dass es zu gefährlich war. Sie hatte schon bemerkt, dass er immer dann in seine Muttersprache zurückfiel, wenn er aufgeregt war, und dann konnte sie ihn nicht verstehen. Doch durch energische Gesten bedeutete er ihr, dass sie um die Klippe herumreiten und einen sanfteren Anstieg suchen mussten. Da sie keine Zeit mit nutzlosen Diskussionen vertun wollte, schwang sich Tara auf ihr Pferd und folgte ihm.
Eine halbe Meile weiter fanden sie eine Stelle, an der man sogar hinauf reiten konnte. Der Boden war hier eher sandig als felsig, und Saladin konnte Spuren ausmachen, die allerdings sehr undeutlich waren. Sowohl Tara als auch Saladin betrachteten gerade angespannt die Abdrücke auf dem Boden, als Tadd Sweeney plötzlich vor ihnen auftauchte. Er hatte Jack vor sich auf dem Pferd, und Mellie kam in einiger Entfernung hinterhergetrottet.
Tara war so erleichtert, Jack lebend wiederzusehen, dass sie vom Pferd sprang und die zwischen ihnen liegende Entfernung innerhalb von Sekunden überwand. Jack schien unter Schock zu stehen, als Tara ihn sanft von Tadds Pferd hob und ihn in die Arme schloss.
»Wo haben Sie ihn gefunden, Tadd?«, fragte sie atemlos vor Freude.
Jack schmiegte sich an sie. Er war vollkommen durchnässt und hatte Schürfwunden an Gesicht und Armen. Tara fiel auf, dass er den einen Arm, der am Ellenbogen geschwollen war, an seinen Körper presste.
»Sein Pferd hatte ihn in einen ... einen Felsensee geworfen«, beantwortete Tadd ihre Frage und deutete nach Westen anstatt nach Osten, wo die Mine lag.
»Bist du verletzt, Jack?«, fragte Tara und blickte in seine Augen, um nach Anzeichen für eine Gehirnerschütterung zu suchen. Auf seinem Nacken bemerkte sie einen roten Striemen, und er hatte eine Beule an einer Seite der Stirn.
Jack senkte den Blick und drückte sein Gesicht wie schutzsuchend an sie.
»Wir müssen ihn zur Farm zurückbringen«, sagte sie und sah erst jetzt, dass auch Tadds Hosenbeine nass waren. »Wie haben Sie ihn gefunden, Tadd?«, fragte sie.
»Ich bin den Spuren bis zum Fuß der Klippe gefolgt, und dann hat Mellie mich zu Jack geführt.« Er hatte Mellie schon eine halbe Meile vor der Mine bellen gehört.
Tara bemerkte, wie Saladin misstrauisch die Stirn runzelte.
»Haben Sie sein Pferd gefunden?«, frage sie weiter.
Tadd zögerte einen Augenblick. »Nein«, sagte er dann.
Tara wandte sich an Saladin. »Würden Sie nach dem Pferd suchen?«
»Wahrscheinlich ist es längst zur Farm zurückgelaufen«, warf Tadd hastig ein.
»Wir haben es aber nicht gesehen.«
»Ich bin sicher, dass es dort ist, wenn wir kommen!«
Plötzlich hatte Tara wieder eine ganz starke Vision und sah Jack in einem Loch im Boden. Das Bild war so real, dass sie zu zittern begann und Jack noch enger an sich zog.
Auf dem ganzen Weg zurück zur Farm sagte Jack kein Wort, und Tara machte sich Sorgen, weil er mit leerem Blick vor sich hin starrte. Es war, als habe er alle Hoffnungen auf eine bessere Zukunft begraben, nachdem er gerade in den Tagen zuvor seit Wochen das erste Mal wieder gelacht hatte. Irgendetwas hatte ihn tief erschüttert, und sie glaubte nicht, dass es der Sturz vom Pferd gewesen war.
Bevor Saladin wieder losritt, dankte Tara ihm dafür, dass er Jack gefunden hatte. Er antwortete nicht, und der Blick seiner dunklen Augen ließ keinerlei Regung erkennen, was Tara verlegen machte. »Ich glaube, ich habe mich in Ihnen geirrt«, sagte sie schüchtern. »Ich hoffe, Sie können mir verzeihen?«
Saladins Erwiderung bestand in einem kaum wahrnehmbaren Nicken, dann war er fort. Sein weißer Kaftan flatterte im Wind, als er in majestätischer Haltung über den Wüstenboden davonritt. Tara sah ihm nach und fand, dass er eine großartige Figur machte. Ethan hatte Recht gehabt, was ihren Mangel an Verständnis für die Eigenheiten des Afghanen betraf!
Im Haus versorgte Tara Jacks Wunden. Sein Arm schien nicht gebrochen zu sein, nur böse verstaucht, aber er war über und über von Kratzern und Schürfwunden bedeckt. Tara nahm sich vor, Tadd noch einmal genau danach zu fragen, wo er Jack gefunden hatte und wie er sich beim Sturz in einen Felsensee so viele Verletzungen hatte zuziehen können. Seit sie
Weitere Kostenlose Bücher