Der Ruf des Abendvogels Roman
konnte ich nicht sehen, aber es ist unwahrscheinlich, dass es dieselbe Farbe hat wie das der Zigeunerin – dieses dunkle Rotbraun«, fügte er hinzu, und es klang fast wie ein Kompliment. »Warum fragen Sie, Sir? Lady Bowers hat doch sicher nichts mit dieser ... Frau zu tun, nicht wahr?«
»Das ist eine lange Geschichte, Kelvin – aber Lady Bowers und die Zigeunerin auf diesem Bild sind sogar ein und dieselbe Person.«
Kelvin stieß überrascht die Luft aus.
»Erinnern Sie sich noch daran, wie ich vor sieben Jahren eine ganz bestimmte Frau gesucht habe?«
Der Geschäftsführer nickte stumm. Es war sehr unwahrscheinlich, dass er diese dunkle Zeit jemals vergessen würde. Er hatte damals die Galerie allein geführt, sich um Ankauf, Katalogisierung und Verkauf gekümmert, während Riordan wie besessen gewesen war. Niemand hatte ihn zur Vernunft bringen können – er hatte weder Kelvin noch jemand anderem viel über die Einzelheiten erzählt, doch seine Suche hatte fast in einer Tragödie geendet, als er durch die Hände von Zigeunern beinahe sein Leben verloren hätte. Keiner von seinen Freunden wusste genau, was er im Chelms Wood, Tipperary, gemacht hatte, aber man vermutete, dass er einem Raubüberfall zum Opfer gefallen war. Die Einheimischen jener Gegend jedoch schrieben das Geschehen sehr viel dunkleren Mächten zu.
»Ich habe damals die Frau auf diesem Bild gesucht«, erklärte Riordan.
Kelvin starrte ihn fassungslos an. Er konnte nicht begreifen, dass Riordan für eine Zigeunerin sein Leben riskiert hatte. Sofortdachte er an das Bild, das er gekauft hatte, und seine Augen weiteten sich. »Ist das Gemälde denn eine ... Fälschung?«
»Das Gemälde ist völlig unwichtig, Kelvin.«
»Unwichtig? Ich habe ihr eine Menge Geld dafür bezahlt!« Kelvin war sehr stolz darauf, dass ihm bislang niemand etwas hatte vormachen können, obwohl es schon viele versucht hatten – doch wie es schien, war es der Zigeunerin tatsächlich gelungen.
Zum ersten Mal, seit Kelvin für ihn arbeitete, und das tat er immerhin mittlerweile seit fast neun Jahren, erkannte Riordan, dass sein Angestellter wirklich ein engstirniger Mann war, ganz wie Tara es gesagt hatte – und diese Erkenntnis erschreckte ihn.
»Ich habe Sie selbst instruiert, jedes Bild des Künstlers zu kaufen, der die Zigeunerin gemalt hat, erinnern Sie sich? Aber das Gemälde ist wirklich unwichtig – Sie brauchen sich deshalb keine Gedanken zu machen, und es sollte Ihnen auch nicht den Schlaf rauben.«
Kelvin hörte gar nicht richtig zu. Der Gedanke, von einer Zigeunerin hereingelegt worden zu sein, schockierte ihn zutiefst. »Ich wusste doch, dass das Bild wertlos war. Ich verstehe nicht, warum Sie mich angewiesen haben, so eine Summe für etwas so Schlechtes zu bezahlen ... So etwas könnte sogar unseren guten Ruf ruinieren!« Ihm fiel wieder ein, wie herablassend die Frau sich ihm gegenüber benommen hatte, und heiße Kränkung schoss in ihm hoch. »Die hat vielleicht Nerven, sich als echte Lady auszugeben!«
Riordan fühlte, wie er wütend wurde, doch er kämpfte seinen Ärger nieder. »Erstens, Kelvin, ist die Zigeunerin in Wirklichkeit Tara Killain und damit eine waschechte Lady. Ninian Killain war früher ein eifriger Kunstsammler, und seine Schwester, Victoria Millburn, ist eine gute Freundin von mir.«
Kelvin sank förmlich in sich zusammen, doch Riordan war noch nicht fertig mit ihm. »Sie sind immer ein loyaler und fähiger Mitarbeiter gewesen, Kelvin, aber manchmal muss man Sie, so scheint es mir, daran erinnern, dass Sie in einem kleinen Farmhaus mit nur zwei Zimmern zur Welt gekommen sind.« Er sah, wiesich sein Angestellter förmlich wand vor Scham. »Sie hatten das Glück, dass Ihr Onkel Ihnen eine Ausbildung bezahlte und dass Ihr Talent in der Kunstszene gefördert wird.«
Kelvin errötete tief und senkte den Blick.
Als er sah, wie sehr er den anderen gedemütigt hatte, schlug Riordan einen sanfteren Ton an. »Tara stammt aus vornehmen Kreisen und hätte normalerweise all die Privilegien beanspruchen können, die damit verbunden sind: eine gute Ausbildung, eine hohe Stellung in der Gesellschaft ...« Er schloss die Augen und verstummte, als er daran dachte, was für eine Wendung ihr Leben genommen hatte und welcher Kummer dadurch über ihre Familie gekommen war. »Sie hat sich in einen Mann verliebt ... der zufällig ein Zigeuner war. Wir haben nicht das Recht, sie deswegen zu verurteilen, ob wir nun mit ihrer Wahl einverstanden sind
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