Der Ruf des Abendvogels Roman
Stantons Tod zu tun hattest, aber ich bin nicht sicher, ob sie mir glauben. Sie haben mich ständig gefragt, ob Stanton und ich deinetwegen miteinander gestritten haben. Als sie hörten, dass du mit mir fortgelaufen bist, dachten sie, Stanton sei vielleicht ein abgewiesener Verehrer. Ich wäre sehr beruhigt, wenn du irgendwohin gingst und ein neues Leben anfingst. Du warst nie für ein Leben unter den Zigeunern bestimmt; ich möchte, dass du mich und das Leben mit mir vergisst. Du bist eine echte Lady und verdienst so viel mehr, als ich dir geben konnte: ein großes Haus, einen netten Mann, viele Kinder ... Ich weiß, dass du dir die Schuld daran gibst, mir keine Kinder geschenkt zu haben, aber viel wahrscheinlicher lag es an mir. Du weißt ja, dass unsere Ehe nur nach Zigeunerrecht gültig war. Betrachte dich als ungebundene Frau, die ein neues Leben anfängt!«
Tränen strömten Tara über die Wagen. Ja, sie hatte frei sein wollen, aber niemals um den Preis von Garvies Leben. Es war alles eine einzige Tragödie.
»Tu es für mich, Tara, bitte! Alles, was ich mir wünsche, ist, dich glücklich und in Sicherheit zu wissen!«
»Ich will dich aber nicht vergessen, Garvie! Verlang das nicht von mir. Du bist fast elf Jahre lang Teil meines Lebens gewesen, und neun davon mein Mann. Große Häuser und all dieses unnötige Zeug habe ich nie gebraucht ...«
Garvie merkte, dass er nicht zu Tara durchdrang. »Vielleicht ist das so. Aber im Grunde wissen wir beide, dass ich der falsche Mann für dich bin.«
Tara schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht hören, was er sagte.Das Einzige, woran sie denken konnte, war, dass Garvie sein Leben verlieren würde, weil er sie gerächt hatte.
Sein Ton wurde hart. Er war fast sicher, dass man ihn hängen würde, und er konnte nicht zulassen, dass Tara ihr Leben damit verschwendete, um ihn zu trauern. »Du hast sogar deine eigene Familie vergessen, Tara. Wenn du das konntest, kannst du auch jemand so Unwürdigen wie mich vergessen. Wir werden keinen weiteren Kontakt miteinander haben.«
Tara starrte ihn zutiefst erschrocken an.
»Schreib mir nicht, denn ich werde niemanden bitten, mir deine Briefe vorzulesen. Besuch mich nicht, denn ich möchte dich nicht sehen. Jetzt geh, und beginne ein neues Leben als Tara Killain!«
Der Schock verschlug Tara die Sprache. Nie zuvor hatte Garvie in diesem Ton mit ihr geredet. Er stand auf, und seiner Miene war nicht anzusehen, wie sehr er litt. Er blickte in Taras schönes Gesicht, sah die Tränen auf ihren Wangen und ihr Bild brannte sich tief in sein Gedächtnis ein. Fast hätte ihr Anblick seine Entschlossenheit ins Wanken gebracht, doch er kämpfte darum, stark zu sein – um ihretwillen. Er liebte Tara von ganzem Herzen, aber er musste sie freigeben.
Unfähig, sich zu rühren, beobachtete Tara, wie er durch die Tür ging, zurück in seine Zelle. Er blickte sich nicht einmal um. Sie fragte sich, wie er so grausam und gefühllos sein konnte. Ihr Kopf weigerte sich, die Wahrheit zu begreifen, doch in ihrem Herzen kannte sie die Antwort: Er liebte sie.
Auch wenn Garvie Recht hatte und man ihn ganz sicher hängen würde, so änderte das nichts an dem unerträglichen Schmerz, der sie erfüllte.
4
A ls Kelvin Kendrick an diesem kalten und ungemütlichen Morgen die Harcourt Gallery betrat, war es noch nicht ganz hell, und er hätte sich jetzt liebend gern in der Wärme irgendwo auf der anderen Hälfte der Erdkugel aufgehalten. An seinem Schreibtisch im hinteren Teil der eigentlichen Galerie sah er zu seinem Erstaunen den Schleier, den Lady Bowers am Tag zuvor getragen hatte, mitten auf seinen Papieren liegen. Verwundert blickte er sich um und stellte fest, dass die Tür zum Büro nur angelehnt war. Da die Galerie für Diebe ein willkommenes Ziel abgab und Kelvin Tapferkeit nicht zu seinen hervorstechendsten Tugenden zählte, erschrak er zutiefst.
Vielleicht handelte es sich bei der Person im Büro um Lady Bowers, die zurückgekehrt war, um das Porträt der Zigeunerin zu stehlen. Aus einem ihm unbekannten Grund schien sie sich Gedanken über das Bild gemacht zu haben. Er zog eine Pistole unter seinem Schreibtisch hervor und näherte sich ein wenig unsicher der Bürotür. Die Pistole war nicht geladen, weil der Gedanke an den Anblick von Blut, auch wenn es das einer anderen Person war, ihm Unbehagen bereitete, doch er hoffte auf die abschreckende Wirkung der Waffe.
Als er kein Geräusch vernahm, warf er einen vorsichtigen Blick in den Raum
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