Der Ruf des Abendvogels Roman
dann mit meiner Tante geschehen? Sicher zog es sie nach Irland zurück, nachdem Tom gestorben war.«
»Das hätte man vermuten können – doch sie hat beschlossen, in Australien zu bleiben und Tambora selbst zu führen. Eine große Aufgabe, denn der Besitz ist zweimal so groß wie Irland.«
Tara konnte nur staunen.
»Ich weiß, dass sie große Schwierigkeiten zu überwinden hatte, aber Victoria ist eine außergewöhnliche Frau«, fuhr er fort, und in seinen Worten schwang ehrliche Bewunderung mit. Er sah, wie sich Taras Augen mit Tränen füllten.
»Victoria muss schon ziemlich betagt sein«, sagte sie, denn ihr war wieder eingefallen, dass ihre Tante älter sein musste als ihr Vater.
Riordan nickte. »Sie ist mir als vitale und energische Frau in Erinnerung, aber zuletzt hörte ich, dass ihre Gesundheit nicht die beste sei. Wie ich Victoria kenne, wird sie nicht aufgeben, bis man sie in einem Sarg von ihrem Grund und Boden trägt.«
Tara nickte. Riordans Bemerkung zum Charakter ihrer Tante erschien ihr ganz zutreffend: Victoria war immer schon sehr entschlossen gewesen, genau wie sie selbst. »Bitte erklären Sie mir doch noch, wie Sie an das Bild gelangt sind – hat sie es Ihnen verkauft?« Tara dachte, dass ihre Tante vielleicht nach Toms Tod Geld gebraucht hatte, um die Farm über die Runden zu bringen, denn die Depression hatte auch Australien sehr gebeutelt.
»Victoria schrieb mir und bat mich, Sie zu finden. Sie hatte kein neueres Foto und wusste nicht, ob Sie vielleicht Ihren Namen geändert hatten, also schickte sie mir das Gemälde als ›Leihgabe‹, damit ich Sie erkennen konnte.«
Tara war verwirrt. »Warum wollte sie mich denn finden?« Den Ärger, der in Riordans Augen aufblitzte, bemerkte sie nicht.
»Sie wünschte sich, dass Sie ihr bei der Bewirtschaftung der Farm helfen sollten.« Das war der Grund, den Victoria ihm zuerst genannt hatte, doch im Laufe der Zeit hatte er den wahren Grund herausgefunden.
Wieder stieß Tara verblüfft den Atem aus. »Ich?« Diese Information musste sie erst einmal einen Augenblick auf sicheinwirken lassen, so unglaublich erschien sie ihm. »Wie lange ist es her, dass sie Ihnen geschrieben und Sie gebeten hat, mich zu suchen? Ein paar Monate? Oder eher zwölf?«
»Vor sieben Jahren – zwei Jahre, bevor Tom starb ...«
Taras Augen weiteten sich vor Schreck. Sicher hätte ihre Tante sie nach Toms Tod mehr denn je gebraucht. Sie sprang hastig auf. »Sieben Jahre ...?« Also nur ein Jahr, nachdem sie Victoria das Bild geschickt hatte. Wäre sie damals persönlich zu ihrer Tante gegangen, statt einfach eine kurze Nachricht und das Bild zu schicken, hätte sie von der Heirat der Tante und ihren Plänen erfahren, mit ihrem Mann im australischen Busch zu leben. So hatte diese nur mit einer kurzen Karte geantwortet und ihr geschrieben, sie werde das Bild nie aus der Hand geben. »Wann haben Sie zuletzt von ihr gehört?«
»Vor fast zwei Jahren. Wahrscheinlich ist es meine Schuld – ich habe den Kontakt abreißen lassen. Ich hatte keine Neuigkeiten über Sie zu berichten ...«
Tara wusste nicht, was sie denken sollte.
»Ihr Leben hätte so anders verlaufen können!«, meinte Riordan müde. »Ihre Tante wollte Ihnen alles über die australische Art der Farmbewirtschaftung beibringen, die von unserer hier sehr verschieden ist, soweit ich weiß. Zuletzt hat sie dort mehrere tausend Stück Vieh gehalten, Rinder und Schafe. Da sie keine Kinder und damit auch keine Erben hatte, dachte sie auf lange Sicht daran, Sie zur Herrin von Tambora zu machen.« Ein ganz anderes Leben als das, das Sie gewählt haben, dachte Riordan halb traurig, halb verärgert. Es versetzte ihm einen regelrechten Stich.
Tara konnte nicht begreifen, was Riordan ihr da sagte. Unruhig lief sie im Raum auf und ab, den Kopf voller wirrer Gedanken. Sie konnte sich nicht vorstellen, einen solchen Besitz zu führen, gerade jetzt nicht, wo sie im Begriff war, ein verfallenes Cottage zu kaufen, nur um überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben.
»Wissen Sie, ob Victoria einen meiner Brüder um Hilfe gebeten hat?« Taras Brüder, die Zwillinge Liam und David, waren zwarjünger als sie, doch sicher eher dazu imstande, einen Familienbetrieb zu führen.
»Ich bezweifle es. Das war nie ihre Absicht.« Riordans Blick wurde hart, als er an die Qualen dachte, die er damals ausgestanden hatte. So sehr er es auch versuchte, er konnte einfach nicht verstehen, wie sie den Menschen gegenüber, die sie liebten, so
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