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Der Ruf des Abendvogels Roman

Titel: Der Ruf des Abendvogels Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Haran
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hinein. Rasch hatte er die Person, die vor dem Bildnis der Zigeunerin stand, erkannt und schüttelte verwirrt den Kopf. Was mochte es nur sein, das die Leute an diesem schrecklichen Gemälde so sehr faszinierte?
    Kelvin schwankte zwischen Erleichterung und Ärger. »Mr.Magee, haben Sie mich aber ... erschreckt! Sie hätten mir doch sagen können, dass Sie heute Morgen aufschließen würden – ich hätte fast einen Herzinfarkt erlitten!« Als Riordan nicht antwortete, betrat er das Büro.
    Riordan war in Gedanken meilenweit entfernt gewesen, in einer mondhellen Nacht, in einem Wald in Tipperary. Er wirkte müde und verzagt.
    »Kelvin ... könnten Sie dieses Bild so einpacken, dass es als Seefracht aufgegeben werden kann?«, fragte er leise und reichte seinem Angestellten das Porträt der Zigeunerin.
    »Dieses Bild, Sir? Hat es etwa jemand gekauft?«
    »Ich möchte es seiner rechtmäßigen Besitzerin zurückgeben.«
    »Ich dachte, Sie ...« Kelvin war zutiefst verwirrt, doch er hielt sich davon zurück, seinen Arbeitgeber auszufragen. »Natürlich, Sir. Aber ich habe gestern doch noch eines gekauft ...«
    »Ich will es nicht sehen«, unterbrach ihn Riordan, in scharfem Ton. »Schicken Sie sie beide an Victoria Millburn, c/o Tambora Station, Wombat Creek, Südaustralien.« Riordan setzte sich an seinen Schreibtisch und nahm einige Papiere. Ein vergeblicher Versuch, um sich abzulenken. Kelvin spürte, dass ihn etwas bedrückte.
    »Stimmt irgendetwas nicht, Sir? Sie sehen ... so anders aus heute Morgen!« Der Geschäftsführer ahnte, dass Riordans eigenartige Verfassung etwas mit Lady Bowers zu tun haben musste, doch er hatte nicht den Mut, genauer nachzufragen. Kelvin starrte auf das Bild, das – noch immer in das braune Packpapier gewickelt – an der Wand lehnte. Vermutlich war sein Arbeitgeber einfach nicht neugierig genug gewesen, um es auszupacken. Er hatte keine Ahnung von den inneren Qualen, die Riordan seit mehr als einer Stunde ausstand, während der er mit dem fast unwiderstehlichen Drang gerungen hatte, das Porträt aus seiner Papierhülle zu befreien.
    »Ein Riesenzufall, dass Lady Bowers ein Bild desselben Künstlers besaß, der auch die Zigeunerin gemalt hat, nicht wahr, Sir?«,meinte Kelvin, der nach Gründen für Riordans bedrückte Stimmung suchte.
    »Das war kein Zufall«, gab dieser müde zurück. »Ich dachte, Sie hätten einen so guten Blick für Details?«
    Die Kritik verblüffte Kelvin. Irgendetwas stimmte absolut nicht. Er verstand nicht, wie der Schleier auf seinen Schreibtisch gelangt war, und Riordan gab ihm ebenfalls Rätsel auf, weil er völlig verändert wirkte.
    »Tut mir Leid!«, sagte Riordan jetzt, fuhr sich mit den Fingern durch die dichten, blonden Haare und stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus. »Sie sind in dieser Sache nicht dümmer als ich gewesen, und der Fairness halber muss berücksichtigt werden, dass die Lady einen Schleier trug!« Kelvin sah die dunklen Ringe unter den Augen seines Arbeitgebers, deutliche Zeichen einer schlaflosen Nacht. »Haben Sie keinerlei Ähnlichkeit zwischen Ta ... Lady Bowers und der Zigeunerin auf dem Bild entdeckt?«
    »Eine Ähnlichkeit? Zwischen Lady Bowers und einer Zigeunerin?!« Kelvin konnte es nicht fassen, und seine Verwirrung steigerte sich von Minute zu Minute.
    »Ihre Gesichtszüge, Kelvin! Ich weiß, sie waren kaum zu sehen, aber haben Sie nicht bemerkt, dass sie ähnlich aussah? Ich dachte, es wäre Ihnen vielleicht aufgefallen, weil die Beleuchtung hier sehr gut ist.«
    Kelvin sah sich das Porträt genauer an. Dabei legte er eine Hand unter sein Kinn, eine seltsame, fast weibliche Pose, die er immer dann einnahm, wenn er sich ganz auf die Betrachtung eines Kunstwerks konzentrierte. »Als ich sagte, dass ich das Bild kaufen würde, hat sie ihren Schleier gelüftet ... Ich fand es eigenartig ...«
    Riordan sah ihn an, und auf seinen Zügen lag plötzlich ein Ausdruck tiefer Traurigkeit. »Dann haben Sie also eine Ähnlichkeit bemerkt?«
    Kelvin besah sich das Gemälde noch genauer. »Jetzt, wo Sie es erwähnen, sehe ich sogar eine verblüffende Ähnlichkeit. Vorallem die Augen ...« Er wandte sich zu Riordan um, angestrengt nachdenkend. »Gestern habe ich überhaupt nicht darüber nachgedacht. Aber die Kleidung der Zigeunerin ist geschmacklos, fast obszön, während Lady Bowers standesgemäß und ordentlich gekleidet war – vielleicht ein bisschen altmodisch, aber gänzlich angemessen für ihre persönlichen Umstände. Ihre Haare

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