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Der Ruf des Abendvogels Roman

Titel: Der Ruf des Abendvogels Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Haran
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Talent darin, auf kleinere Kinder aufzupassen. Darin war sie ihrer Mutter sehr ähnlich, auch sie hatte immer Kindermädchen gehabt. Sie war auch noch niemals gezwungen gewesen, Tiere zu pflegen oder deren Hinterlassenschaften fortzuschaffen, was die Zigeuner von ihr erwarteten. Anscheinend besaß sie keinerlei nützliche Kenntnisse und Fähigkeiten. Als man sie letztlich fragte, ob sie denn überhaupt irgendetwas könne, antwortete sie ihnen halb im Scherz, dass sie sehr gern tanze. Die Frauen lachten nur spöttisch, doch die Männer behaupteten, ihr Aussehen könne durchaus ein zahlendes Publikum anlocken, und drängten die Frauen, ihr die Zigeunertänze beizubringen. Sie lehrten sie, ihren Körper auf eine Weise zu bewegen, wie sie es sich nie zuvor erträumt hatte. Riordan würde niemals verstehen, dass das Tanzen ihr nach dem Verrat durch den Vater ihr Selbstvertrauen und ihre Würde wiedergegeben hatte.
    »Wann haben Sie mich tanzen gesehen?«, fragte sie, während sie sich wieder setzte.
    »Im Chelms Wood. Ich bin dorthin gegangen, um Sie zu ...retten. Wie Ihre Tante glaubte ich, Sie seien entführt worden und die Zigeuner hielten Sie gegen Ihren Willen fest. Ich dachte, Sie führten ein demütigendes Dasein in den Händen ungehobelter Männer. Mein Irrtum hätte nicht fataler sein können. Wie um Himmels willen hätte ich ihrer Tante erzählen können, was ich damals gesehen habe? Sagen Sie es mir!«
    Tara starrte ihn eine Weile stumm an. Dann dämmerte ihr die Erkenntnis: Sie betrachtete sein Gesicht und sah eine blasse Narbe, die sich von seiner rechten Augenbraue bis unterhalb des Ohres zog. »Sie waren der Mann, den die Zigeuner verprügelt haben! Ich dachte, sie hätten Sie umgebracht. Mein Gott, das muss ...«
    »... sieben Jahre her sein, genau. Sie haben mich wirklich beinahe umgebracht«, meinte Riordan wütend. »Aber die Schmerzen, die ich erlitten habe, waren nichts im Vergleich zu meiner Enttäuschung.«
    Unfähig, sie auch nur einen Moment länger anzublicken, wandte sich Riordan dem Fenster zu und dachte an den alten Mann, Donaldbain Keefe, der ihm geholfen hatte. Ohne den alten Mann wäre er sicher gestorben.
    Verblüfft über seinen Ausbruch starrte Tara auf seinen Rücken und dachte über das nach, was er gesagt hatte. Sie konnte das alles nicht verstehen. Warum hätte er enttäuscht sein sollen? Sie bedeutete ihm doch nichts! Jene Nacht war ihr jetzt wieder so lebhaft im Gedächtnis, als sei es am Tag zuvor gewesen. Ihr Publikum hatte aus einem Meer verschwommener Gesichtern bestanden, doch ein Augenpaar hatte ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen: Riordans! In seinem Blick hatte das gleiche unverhüllte Begehren gestanden wie in denen der anderen Männer. Aber bei ihm hatte sich in das Verlangen noch etwas gemischt, das sie damals für Traurigkeit gehalten hatte. Jetzt wusste sie, dass es Enttäuschung gewesen war. Dieser Blick hatte sie lange Zeit verfolgt.
    Tara hatte versucht, die Männer davon abzuhalten, weiter auf ihn einzuschlagen, doch die Frauen hatten sie mit sich fort gezogen. Monatelang hatte sie der Gedanke beschäftigt, warum derFremde gekommen sein mochte, warum er sie so angesehen hatte. Sie war von Schuldgefühlen gepeinigt worden, überzeugt, die Zigeuner hätten ihn getötet. Es war ein reines Wunder, dass er lebte, und dafür dankte sie dem Herrgott. Und weil sie der Grund für seine Anwesenheit im Lager gewesen war, hatte sie das Gefühl, ihm eine Erklärung schuldig zu sein. Es würde sehr schwer werden, aber es wurde höchste Zeit, die Dinge zu klären – zuerst Riordan gegenüber und dann ihrer Tante! Erst dann würde sie wirklich frei sein, neue Pläne zu schmieden ...
    »Am Abend meines achtzehnten Geburtstags«, begann sie zögernd, »wurde ich überfallen und ...«, sie bemühte sich, möglichst unbeteiligt zu klingen, aber das war unmöglich, »... vergewaltigt.«
    Riordan wandte langsam den Kopf, und sie sah den Schreck in seinem Gesicht. Doch dann veränderte sich seine Miene und drückte nun eher Verachtung aus. »Von einem Zigeuner?«
    »Nein. Vom Verwalter meines Vaters, Stanton Jackson.« Sofort musste sie an Garvie denken, und etwas in ihrer Brust zog sich schmerzhaft zusammen. »Mein Vater hielt sehr viel von ihm – so viel, dass er mir nicht glaubte, als ich ihm erzählte, was passiert war.« So sehr sie es auch versuchte, sie konnte ihre Gefühle nicht zurückhalten, als sie von ihrem Vater sprach. Verzweifelt kämpfte sie gegen das Schluchzen an.

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