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Der Ruf des Abendvogels Roman

Titel: Der Ruf des Abendvogels Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Haran
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grausam hatte handeln können.
    »In Wahrheit wollte Ihre Tante Sie aus einem wie sie glaubte furchtbaren Dasein retten ... Ich habe es nicht übers Herz gebracht, ihr zu sagen, das Sie in Ihrem neuen Leben glücklich waren.«
    Sein seltsamer Ton und die Andeutungen, die in seinen Worten mitschwangen, verwirrten Tara. »Wie meinen Sie das?«
    »Ihre Tante sagte mir, Sie seien von den Zigeunern entführt worden.«
    Tara war jetzt vollkommen verblüfft. »Entführt? Warum hat sie Ihnen das erzählt?«
    »Sie konnte einfach nicht glauben, dass Sie freiwillig mit ihnen gegangen waren. Ich weiß, dass Sie ihr in einem Brief schrieben, Sie seien glücklich, aber das hat sie nicht geglaubt. Sie erzählte mir, Ihre Familie habe anlässlich Ihres achtzehnten Geburtstages eine große Party für Sie gegeben, Ihr gesellschaftliches Debüt sozusagen. Bei dieser Gelegenheit habe sie Sie das letzte Mal gesehen. Anscheinend war Ihre Tante damals krank und konnte an dem Fest nicht teilnehmen.«
    Tara senkte den Blick. Sie erinnerte sich, dass ihre Tante gerade aus irgendeinem fremden Land zurückgekehrt war, wo sie sich mit einem Fieber infiziert hatte. »Das stimmt – aber ich bin nicht entführt worden.« Sie ging zu dem vorhanglosen, vergitterten Fenster hinüber. Es bot sich ihr kein schöner Ausblick, doch draußen fiel der erste Schnee und verlieh dem Ganzen eine sanftere Note. Vermutlich hatte ihr Vater ihrer Tante erzählt, dass sie entführt worden sei. Wahrscheinlich war ihm das leichter gefallen als das zuzugeben, was er annahm: dass sie sich freiwillig einemZigeuner hingegeben hatte und dann mit diesem davongelaufen war. Ninian Killain hätte fast alles getan, um Skandal und Ehrverlust zu vermeiden. Am Ende hatte er sich sogar gegen seine einzige Tochter gestellt, dachte Tara bitter.
    »In jener Nacht ist etwas geschehen, über das ich gern mit meiner Tante gesprochen hätte – ich glaube, Victoria hätte es verstanden ...« Sie konnte nicht weitersprechen.
    »Vielleicht ist es besser so. Mit dem Eingeständnis, sich in einen der Zigeuner verliebt zu haben und ohne Rücksicht auf Ihre Familie mit ihm davongelaufen zu sein, hätten Sie Ihrer Tante bestimmt das Herz gebrochen!«
    Heiße Wut stieg in Tara auf. »Aber so war es nicht!«, stieß sie mühsam beherrscht hervor.
    Riordan sah sie an, den Blick der graublauen Augen voller Zweifel.
    »Sie wissen eben doch nicht alles über mein Leben!«, fügte Tara erbittert hinzu.
    Das, was er für vorgetäuschte Kränkung hielt, ließ Riordans jahrelang aufgestaute Qual und Enttäuschung mit einem Mal wie einen Vulkan explodieren. »Ich weiß aber zum Beispiel, dass Sie mehr als freiwillig für die Zigeuner getanzt haben – Sie standen alle in Ihrem Bann!« Er war auch wütend über sich selbst, weil er seine wahren Gefühle preisgab, doch er kam nicht dagegen an.
    Tara schnaubte jetzt förmlich. »Woher wollen Sie das wissen?«, fragte sie aufgebracht.
    »Weil ich Sie gesehen habe!« Die leidenschaftliche Wut, die so viele Jahre lang an Riordans Seele genagt hatte, brach sich jetzt Bahn, und es gab kein Halten mehr. »Ich habe beobachtet, wie Sie die Männer mit ihren Reizen erregt haben. Ich habe gesehen, wie die Zigeuner Sie angestarrt haben. Sie haben jede Sekunde genossen, und es ist nicht übertrieben, wenn ich behaupte, dass die Begeisterung ihrer Zuschauer Ihnen auf schamlose Weise Lust bereitet hat.«
    Tara wurde bleich vor Wut. Im ersten Moment hätte sie sich amliebsten verteidigt, ihm gesagt, wie gern sie tanzte. Sie hatte nie gewagt, wie andere Zigeunerfrauen Waren auf der Straße zu verkaufen, aus Furcht, vielleicht als Tochter eines angesehenen Bürgers erkannt zu werden. Überraschenderweise besaß sie einiges Talent, wenn es darum ging, die Zukunft vorherzusagen. Doch sie hatte sich stets geweigert, es auf Jahrmärkten für Geld zu tun, und sie war zu stolz gewesen, um ein paar Münzen zu betteln. Aufgrund ihrer Weigerung, auf der Straße zu betteln oder Waren zu verkaufen, hielten manche der Zigeuner sie für hochnäsig, doch nichts wäre weiter von der Wahrheit entfernt gewesen. Obwohl sie ihre Eltern niemals wiedersehen wollte, hatte sie den Namen ›Killain‹ nie entehren wollen. Sie musste schließlich auch an die Zukunft ihrer Brüder denken.
    Die Zigeuner hatten schnell erkannt, dass sie für die Sippe keine große Hilfe sein würde: Sie hatte ihr ganzes Leben lang Bedienstete gehabt. Was wusste sie schon vom Kochen und Putzen? Sie hatte kein großes

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