Der Ruf des Abendvogels Roman
...«
»Warum nicht? Ich habe ganz sicher eher ein Recht darauf als Sie!«
Kelvin starrte sie finster an, doch Tara ließ sich nicht beirren. Ihre grünen Augen funkelten gefährlich. Sie war so wütend, dass sie es sogar mit dem Teufel aufgenommen hätte. Während sie sich weiterhin wütend anstarrten, hielt sie das Gemälde fest in den Armen und gab Kelvin deutlich zu verstehen, dass er nur nicht wagen solle, es ihr zu entreißen.
Er warf einen kurzen Blick auf Riordans Tür. Als diese jedoch geschlossen blieb, dachte er sich, dass Riordan schließlich nicht wissen konnte, dass sie das Bild mitgenommen hatte, also – was machte es schon? Er hatte immer noch das andere Bild, das er losschicken konnte. Seiner Meinung nach war das Porträt sowieso wertlos und sollte ruhig im Besitz seines Modells bleiben – bei Tara, der Zigeunerin.
Tara wartete nur noch einen winzigen Moment, bevor sie hoch erhobenen Hauptes auf die Tür der Galerie zueilte. Sie würde das Bild selbst abliefern – zur Hölle mit Riordan Magee!
5
A m Nachthimmel glitzerten Millionen Sterne, und aus Nordwest wehte eine sanfte Brise, was für Ende Januar auf der südlichen Erdhalbkugel typisch war. Die Emerald Star machte gute Fahrt auf diesem letzten Stück der Reise, die glücklicherweise ohne Zwischenfälle verlaufen war. Nach fast zwei Monaten auf See legte das Schiff einen kurzen Zwischenstopp in Freemantle an der Südwestspitze Australiens ein, wo einundachtzig Passagiere an Land gingen. Vierzig von ihnen hatten von der Regierung Land zugewiesen bekommen, auf dem sie Farmen gründen und sich selbst versorgen wollten. Für die ersten sechs Monate war ihnen eine Unterstützung von sechzehn Schillingen zugesagt worden, danach mussten sie allein zurechtkommen.
Die anderen einundvierzig träumten davon, in der Stadt Kalgoolie im Westen auf Gold zu stoßen. Die Nahrungs- und Wasservorräte wurden aufgefüllt, bevor das Schiff durch das große Südmeer auf die ›Investigator-Strait‹ und ihren nächsten Zielhafen, Port Adelaide, zuhielt.
Den Passagieren wurde mitgeteilt, dass sie vermutlich am folgenden Morgen vom Schiff gehen konnten. Nach der langen, gefährlichen Reise um das Kap der Guten Hoffnung herum waren alle ungeduldig, den eng begrenzten Raum des Schiffs bald hinter sich lassen zu können.
»Ich kann kaum glauben, dass Eleanor Craddock mir so etwas Schönes schenkt, Maureen!«, sagte Tara und hielt in ihrer engen Kabine eine Kette mit einem glänzenden Türkis vor sich in dieHöhe. »Es ist mein Glücksstein, deshalb hat sie darauf bestanden, dass ich ihn annehmen soll.«
Tara hatte eine ganze Dose voller Schmuckstücke angesammelt – fast genug, um damit einen eigenen Juwelierladen aufmachen zu können. Sie hatte versucht, solche Geschenke zurückzuweisen, aber ihre ›Kundinnen‹ hatten viel Fantasie entwickelt, um sie ihr trotzdem zukommen zu lassen. Der Schmuck war ihr vor die Tür gelegt oder in ihre Wäsche gesteckt worden. Beim Essen hatte sie ihn unter ihrer Serviette und sogar in ihrer Suppe gefunden.
»Sieht aus, als wäre es ein kleines Vermögen wert. Was immer du ihr gesagt hast, muss sie sehr beeindruckt haben!«
Tara dachte an ihr Treffen mit Eleanor, gleich nach dem Essen in der geräumigen Kabine in der ersten Klasse, die sechsmal so groß war wie der ›Schuhkarton‹, den sie mit Maureen und deren sechsjähriger Tochter Hannah teilte. »Ihr Mann hat sich in eine Weinhandlung im Barossa-Tal in Südaustralien eingekauft, wie sie sagte eine fruchtbare Gegend, die von den Deutschen erschlossen worden ist. Seine Geschäftspartner sind wirklich alle Deutsche, und Eleanor macht sich Sorgen, weil sie sich nicht erklären kann, warum sie Roddy aufgenommen haben. Obwohl er immer großes Interesse an guten Weinen hatte, weiß er absolut nichts darüber, wie man sie produziert. Außerdem wollte sie wissen, ob ihr Sohn später in den Betrieb einsteigt. Jetzt, wo es so wenig Arbeitsplätze gibt, macht sie sich natürlich Sorgen. Sie wollen das bisschen Geld, das sie gespart haben, nicht verlieren. Ich habe ihr die Karten gelegt, und alles sieht gut aus. Ihr Mann ist in Bezug auf Zahlen und Vermarktung sehr begabt, und das haben seine Partner erkannt. Ich habe ihr gesagt, er solle die Kelterei ihnen überlassen und sich um den Verkauf kümmern. Es wird zwar lange dauern, aber ich glaube, die Firma wird auf lange Sicht florieren und die Partner werden sich gut verstehen. Eleanor war sehr froh, aber ich ahnte, dass ihr
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