Der Ruf des Abendvogels Roman
Ich sah, wie die Diener fieberhaft die Umgebung des Hauses nach mir absuchten, und bestand darauf, den Rest des Weges allein zu gehen. Ich wollte dem Mann, der so freundlich zu mir gewesen war, keine Schwierigkeiten bereiten.« Tara dachte an das, was sie gerade von Garvie erfahren hatte, und das Herz wurde ihr schwer wie Blei. Wenn er Stanton nur nicht gefolgt wäre!
Riordan hatte sich wieder in seinen Sessel gesetzt, und Tara ging zum Fenster hinüber. Sie starrte in den fallenden Schnee underinnerte sich daran, wie Garvie ihr damals jedes Wort geglaubt hatte. Er war ein völlig Fremder gewesen und hatte doch keine ihrer Aussagen angezweifelt. Er hatte sie beruhigt und getröstet, überzeugt davon, dass ihr Vater Stanton Jackson vor Gericht bringen würde. Doch das Gegenteil war geschehen.
Tara erstarrte förmlich, als sie daran dachte, was dann folgte. Mit tonloser Stimme sprach sie weiter. »Ich berichtete meinem Vater, was passiert war, und ... er nannte mich ... eine Lügnerin!« Dabei hatte sie ihren Vater so geliebt und ihn niemals belogen. »Offensichtlich war Stanton vor mir bei ihm gewesen und hatte ihm einen ganzen Packen Lügen aufgetischt. Ich konnte nicht glauben, dass er Stantons Wort höher schätzte als meines! Als er den Zigeunerschal sah, begann er vor Wut zu rasen. Er sperrte mich in mein Zimmer ein und rief den Arzt. Als der bestätigte, dass ich keine ... Jungfrau mehr war, ließ Vater den Constable holen. Meine Mutter sah mich an, als trage ich einen Makel mit mir herum, und ich wusste, was sie dachte: ›Kein anständiger Mann möchte eine beschädigte Ware .‹ Ihre Hoffnungen auf eine gute Partie für mich waren zerstört. Wie ich mich fühlte, war völlig gleichgültig ...«
Tara wandte sich zu Riordan um, und Tränen liefen ihr über die blassen Wangen. »Mein Vater wollte die Zigeuner hängen sehen. Stanton hatte ihm erzählt, er habe mich dabei beobachtet, wie ich mich im Wald einem der Zigeuner hingegeben hätte.« Jetzt begann sie heftig zu weinen. Riordan reichte ihr sein Taschentuch und goss ihr ein Glas Wasser ein. Er fühlte sich wie betäubt, schämte sich für das, was er angenommen hatte. Doch ihre Geschichte war auch mit gutem Willen nur sehr schwer zu glauben. Zu viele offene Fragen gingen ihm durch den Kopf.
»Ich überredete einen meiner Brüder, mich aus meinem Zimmer herauszulassen, und lief zum Zigeunerlager, um sie zu warnen und zum Aufbruch zu drängen. Ich bat Garvie, mich mitzunehmen, und sagte ihm, ich würde sowieso fortlaufen, ob nun mit den Zigeunern oder ohne sie. Er ließ sich erweichen, aber sichernur, um mich beschützen zu können. Ich war mir klar darüber, dass sich mein Leben nun völlig ändern würde, doch ich fühlte mich von meinem Vater verraten, und dies schien mir die einzig mögliche Lösung.«
»Wo ist Ihr ... Garvie jetzt?«, fragte Riordan.
Tara senkte den Blick. »Das ist unwichtig.«
Riordan musterte sie eindringlich. Irgendetwas in ihrem Ton hatte ihn misstrauisch gemacht. »Er ist im Gefängnis, nicht wahr?« Die Abneigung in seinen Worten war nur zu deutlich.
Tara antwortete nicht, doch das war auch nicht nötig. Ihre Miene sagte ihm alles, was er wissen wollte. Es überraschte ihn nicht sonderlich, dass ihr Mann ein Verbrecher war. Allerdings würde sie ihn, nach dem zu urteilen, was er über die Behandlung von Zigeunern im Gefängnis wusste, wahrscheinlich nie mehr wiedersehen.
»Leben Sie immer noch mit den ... Zigeunern?«, fragte er, unfähig, so unbeteiligt zu bleiben, wie er es gern gewesen wäre.
Nun, da sie ihm soeben die schlimmste Erfahrung ihres Lebens enthüllt hatte, sah Tara keinen Grund mehr für taktvolle Zurückhaltung. »Nein, Garvie schuldet dem Anführer Geld, deshalb haben sie mir alles genommen, was ich besaß, den Wohnwagen eingeschlossen, und mich aus der Sippe verstoßen. Ich besitze nur noch etwas Kleidung und mein altes Pferd.«
Ihre Aufrichtigkeit rührte Riordans Herz. »Ganz so hartherzig werden sie doch wohl nicht sein, nur weil Ihr Mann ihnen Geld schuldet?«
Tara schwieg einen Moment, bevor sie antwortete: »Ich bin keine von ihnen, keine Blutsverwandte. Sie haben mich nur wegen Garvie geduldet – und jetzt ist er ... fort.«
Riordan runzelte die Stirn und fragte plötzlich: »Und was werden Sie jetzt tun?«
Tara hielt seine pragmatische Art für Kaltherzigkeit, doch sie hatte auch nichts anderes erwartet. Bisher hatte er ihr gegenüber nicht das leiseste Mitgefühl gezeigt.
»Ich hatte
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