Der Ruf des Abendvogels Roman
eines der Kinder auf dem Schiff hätte retten können.« Sie schluchzte leise auf, und Tara drückte ihr sanft die Hand. Was sie zusammen durchgemacht hatten, hatte zwischen ihnen eine Vertrautheit geschaffen, als würden sie sich schon Jahre kennen. Innerhalb weniger Stunden hatten sie einander Gefühle gezeigt, die man sonst nur mit den liebsten Menschen teilte, und beide spürten, dass sie am Anfang einer höchst ungewöhnlichen Freundschaft standen.
Sorrel blickte auf, sichtlich um ihre Fassung bemüht.
»Vielleicht sollten Sie Ihren Sohn benachrichtigen«, schlugTara vor. »Falls er in der Zeitung etwas über den Untergang der Emerald Star liest, wird er das Schlimmste befürchten!«
»Die Reederei hat mir schon angeboten, ihn zu informieren.« Sorrel hob eine Augenbraue. »Und dabei so getan, als sei das schrecklich großzügig von ihnen! Haben Sie jemanden, den Sie benachrichtigen müssten?«
»Nein. Ich habe eine Tante hier, jedenfalls so weit ich weiß. Wir haben uns aber seit Jahren nicht mehr gesehen, und ich wollte sie überraschen ...« Plötzlich fiel Tara ihr Koffer mit dem Gemälde aus der Harcourt Gallery ein. Sie bezweifelte, dass er gefunden werden würde. »Wenn ich nicht gerettet worden wäre, hätte sie es nie erfahren ...«
»Aber Sie sind in Sicherheit, und vielleicht wäre sie froh, sie zu sehen!« Sorrel betrachtete nachdenklich die schlafenden Kinder. »Und was wird aus den beiden?«, fragte sie leise.
Tara runzelte die Stirn. »Ich weiß es nicht.« Nach einer Weile fuhr sie flüsternd fort: »Ich fühle mich für sie verantwortlich, aber ich weiß absolut nicht, was ich tun soll. Ich habe ihrem Vater versprochen, mich um sie zu kümmern, aber ich habe ...« Das Wort ›Angst‹ lag ihr auf der Zunge, doch sie fühlte sich nicht mutig genug, es zuzugeben, nicht einmal vor sich selbst.
»Es ist eine wahnsinnig große Verantwortung«, meinte Sorrel und drückte damit exakt das aus, was Tara fühlte.
»Ich weiß nicht einmal, ob es rechtlich erlaubt ist, wenn ich sie zu mir nehme«, erklärte sie.
Während sie noch miteinander sprachen, wurden sie Zeugen einer Szene, die sich seitlich von ihnen, im hinteren Teil des großen Raumes, abspielte. Eine junge, gut gekleidete Frau hielt ein Kind an sich gepresst, während eine ältere Rotkreuzschwester versuchte, ihr den Säugling wegzunehmen. Die Frau, die das Kind hielt, war offensichtlich nicht gewillt, es herzugeben.
»Vielleicht haben sie noch Verwandte in Irland?«, meinte Sorrel auf Jack und Hannah bezogen, während sie zu den beiden Frauen hinüberstarrte.
Tara nickte, ihr fielen die Gespräche ein, die sie mit Maureen geführt hatte. »Sie haben eine Tante, Moyna ... nein, Moyna Conway. Sie lebt irgendwo in Derry, und Maureen hat oft von ihr erzählt, aber ohne Wärme. Anscheinend sind die Schwestern nicht gut miteinander ausgekommen. Maureen sagte, Moyna habe fünf Töchter, darunter ein Zwillingspärchen, und zwei Söhne. Sie meinte, ihre Schwester behandle die Mädchen wie Sklaven und zwinge sie, die ganze Arbeit auf der Farm zu tun, während sie selbst den Tag auf dem Sofa verbringt. Wenn ihr Mann nicht zu Hause war, hat sie die Mädchen nicht einmal zur Schule gehen lassen. Sobald die älteren Kinder von ihnen alt genug waren, sind sie weggegangen, und nun mussten die Jüngeren bis zur Erschöpfung arbeiten. Maureen nannte ihre Schwester ein ›faules Stück‹ und gebrauchte Ausdrücke, die ich lieber nicht wiedergeben möchte.« Traurig fuhr Tara fort: »Maureen war genau das Gegenteil. Sie hätte alles für ihre Familie getan. Ich bin sicher, sie wäre dagegen, dass die Kinder zu Moyna kommen, aber welche anderen Möglichkeiten gäbe es dann? Ein Waisenhaus?« Schaudernd schüttelte sie den Kopf. »Das könnte ich nicht – ich habe sie mittlerweile sehr ins Herz geschlossen.«
Sorrel hatte schon bemerkt, dass Tara die Kinder wirklich gern hatte. Warum sie wohl keine eigenen Kinder hatte? Sorrel sah den schmalen, blassen Streifen an ihrem Ringfinger, wo sie wahrscheinlich einen Ehering getragen hatte. Es gab eine ganze Menge möglicher Erklärungen dafür, dass er jetzt nicht mehr da war, doch Tara hatte bisher nie von einem Ehemann gesprochen. Die raue Haut ihrer Hände sprach nicht eben dafür, dass sie das Leben einer Lady gelebt hatte, und Sorrel begann, sich darüber Gedanken zu machen. Sie war von Natur aus neugierig, versuchte jedoch, keine vorschnellen Urteile zu fällen.
Plötzlich wurden sie und Tara durch
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