Der Ruf des Abendvogels Roman
dass man diesen Menschen verlieren wird – aber es war trotzdem sehr schwer. Robert litt an Muskelschwund, und es war furchtbar, mit ansehen zu müssen, wie er immer weniger wurde. Lange bevor er starb habe ich zu Gott gebetet, dass er ihn heimholen möge, damit sein Leiden endlich ein Ende hätte. Früher war er ein Mitglied der Garde am Buckinghampalast, ein kräftiger, gut aussehender Mann. Als er starb, war er nur noch ein Schatten seiner selbst. Ich habe ihn so sehr geliebt, aber es war sehr grausam.«
»Ist er im Krankenhaus gestorben?«, wollte Tara wissen.
»Um Gottes willen, nein! Ich habe ihn bis zum Ende allein gepflegt – er konnte die entwürdigende Vorstellung nicht ertragen, dass ein völlig Fremder, eine Krankenschwester ...« Sie verstummte.
»Haben Sie denn noch Verwandte?«, fragte Tara leise.
»Nur einen Sohn, Marcus Robert John Windspear.«
Tara hörte den Stolz aus Sorrels Stimme heraus.
»Er lebt schon seit einigen Jahren in Australien, und seit dem Tod seines Vaters drängt er mich, meine letzten Lebensjahre mit ihm und seiner Familie zu verbringen. Sie wohnen in einer Stadt namens Alice, irgendwo in der Mitte dieses gottverlassenen Landes. Wissen Sie, er hat in England Rechtswissenschaft studiert, und jetzt führt er zusammen mit seiner Frau ein Hotel! Für mich ist es schwer zu verstehen, aber ihnen scheint es Spaß zu machen, eine Meute ständig betrunkener, ungehobelter Landbesitzer zu bedienen, die sie Buschmänner nennen. Offensichtlich mögen sie das Leben in einer Kleinstadt auf dem Land; nur Gott weiß, was mich dort erwartet. Ich wollte mein Zuhause eigentlich nicht verlassen, aber ich konnte Marcus’ Bitte einfach nicht zurückweisen.« Während sie sprach, verscheuchte Sorrel ununterbrochen Fliegen, die schon seit Tagesanbruch eine einzige Plage waren, und fuhr fort: »Er sagt, im Busch sind diese Biester besonders schlimm. Wenn es noch mehr gibt als hier, weiß ich nicht, ob ich damit fertig werde.«
Tara war sicher, dass Sorrel mit fast allem fertig werden würde. Sie beneidete sie um ihre innere Stärke, die ihr half, nicht die Beherrschung zu verlieren wie so viele andere während der Katastrophe. Tara selbst dankte im Stillen Gott dafür, dass sie nicht hysterisch geworden war. Denn was wäre dann aus Jack und Hannah geworden?
»Ich muss Ihnen etwas sagen«, gestand sie. »Sie haben mir mit ihrer Tapferkeit an Bord das Leben gerettet. Ich war kurz davor, den Verstand zu verlieren, und wenn Sie nicht gewesen wären, wäre ich vielleicht über Bord gesprungen oder hätte etwas ähnlich Dummes getan!«
Sorrel wirkte überrascht. »Bis Sie mir versicherten, dass wir es schaffen würden, war ich felsenfest davon überzeugt, ich müsste sterben. Sie schienen so sicher zu sein, dass Sie mir wieder Hoffnung gegeben haben!«
Die beiden Frauen lächelten einander verwundert an. Sorrel nahm Taras Hand, die diese ihr ohne Zögern überließ. Erst als sie den warmen Druck von Sorrels Hand spürte, die die ihre mitsanftem Druck umschloss, fiel Tara wieder ein, wie rau ihre Haut war und in welchem Zustand sich ihre Fingernägel befanden.
Als Sorrel plötzlich ernst wurde, schaute Tara sie besorgt an. »Was ist los?«
»Ach«, gab die Ältere zurück, »Marcus und Irene wollten mich hier abholen, aber ich habe ihnen gesagt, sie sollen sich nicht bemühen. Es ist so weit, und sie haben die Kinder und das Hotel, um das sie sich kümmern müssen. Gott sei Dank sind sie nicht gekommen, unsere Landung war ja nun wirklich alles andere als ein viel versprechender Anfang – einfach katastrophal!« Sie fuhr mit den Fingern durch ihr Haar und bemühte sich vergeblich, ihre Frisur zu richten. Dann schüttelte sie den Kopf, und in ihren Augen glänzten Tränen. Tara konnte sich an viele verregnete und windige Tage erinnern, an denen sie mit dem Planwagen unterwegs gewesen war und furchtbar ausgesehen hatte. Doch Sorrel war offensichtlich noch niemals in einem solchen Zustand gewesen, und ihr ungepflegtes Äußeres verletzte ihren Stolz.
Jetzt blickte sie auf das Foto, das sie noch immer festhielt, und Tara tat dasselbe. Robert und Sorrel mussten damals etwa zwanzig Jahre alt gewesen sein und sahen sehr verliebt aus. Er war tatsächlich ein sehr beeindruckender Mann gewesen, groß, kräftig, stark und gut aussehend – und so wollte Sorrel ihn wohl auch im Gedächtnis behalten.
»Ich habe großes Glück gehabt«, meinte sie, »aber ich hätte gern mein Leben gegeben, wenn ich dadurch
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