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Der Ruf des Abendvogels Roman

Titel: Der Ruf des Abendvogels Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Haran
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man sich auf die moderne Schiffstechnik verlassen und zu wenig auf altbewährte Seemannsregeln geachtet.
    Während die Redner sich ausführlich darüber ausließen, wie den überlebenden Passagieren seitens der Reederei geholfen werden würde, ohne dabei jedoch wirklich konkret zu werden, unterhielt sich Tara mit Sorrel. Die alte Dame hatte einen sehr scharfen Verstand, wie Tara rasch feststellte. Ihr lebhafter Blick zeugte nicht von viel Geduld im Umgang mit dümmeren, unbedachten Menschen. Sie war im Leben immer ihren eigenen Weg gegangen, und das gedachte sie auch weiterhin zu tun. Tara hatte ihre Reaktion beobachtet, als ein Crewmitglied ihr aufgrund ihres Alters Hilfe angeboten hatte. Sie hatte ihm grob zu verstehen gegeben, dass sie weder lahm noch senil sei und er besser jemandem helfen sollte, der es wirklich nötig hatte. Offensichtlich sprach sie grundsätzlich aus, was sie dachte, ohne groß um die Dinge herumzureden. Ihre nächsten Worte bestätigten Taras Eindruck.
    »Sind Sie nicht diese Wahrsagerin, von der auf dem Schiff alle sprachen?«
    Tara lächelte schwach. »Ich bin keine Wahrsagerin. Ich sage nur offen, was ich denke und fühle, ganz ähnlich wie Sie.«
    Sorrel bemerkte, dass Tara ihre Gabe eher unangenehm war. »Wenn Sie wirklich in die Zukunft sehen können, ist das wie ein Geschenk. In Irland müssten Sie eigentlich als Seherin berühmt sein, denn nur Auserwählte haben diese Fähigkeit!«
    Tara begann unruhig zu werden. »Ich kann Ihnen versichern, dass ich diese Gabe nicht besitze. Ich habe nur ein bisschen Spaßgemacht, mir die Zeit vertrieben, und das hat sicher niemand ernst genommen!«
    »In der ersten Klasse haben alle über Sie gesprochen«, gab Sorrel zurück. »Schade, dass Sie nicht wirklich in die Zukunft blicken können. Der Brand ist sicher durch menschliche Unachtsamkeit entstanden. Aber für den Sturm, der allein schon genügend Schaden angerichtet hat, um das Schiff zum Sinken zu bringen, können wir nur Mutter Natur verantwortlich machen. Und vielleicht wäre der ja vorauszusagen gewesen!«
    Erst jetzt begriff Tara mit einem Mal schlagartig, was auf dem Schiff geschehen war. Sie wurde weiß wie ein Laken. Die Ältere stutzte.
    »Was ist los, Liebes? Haben Sie gewusst, dass das Schiff untergehen würde?«
    »Nein – aber ich habe tatsächlich von dem Brand geträumt und sogar die Zahlen gesehen, aus denen sich die Nummer der Kabine zusammensetzte, in der das Feuer ausgebrochen ist. Der Raum war nicht weit von meiner Kabine entfernt im Unterdeck. Ich habe schon öfter solche Träume gehabt, aber niemals in dieser Deutlichkeit. Es wirkte so real, dass ich davon aufgewacht bin; und dann habe ich den Brandgeruch bemerkt. Aber das alles kann nur ein Zufall gewesen sein ...« Sie schüttelte den Kopf, wie um dadurch Klarheit in ihre Gedanken zu bringen. »Aber wenn ich nicht aufgewacht wäre, wären sehr viel mehr Menschen aus dem Unterdeck umgekommen, mich selbst eingeschlossen.«
    »Dann verdienen Sie eine öffentliche Belobigung!«
    Tara lächelte unglücklich. »Leider denken nicht viele so. Vor dem Unglück war ich vielleicht sehr beliebt, doch das hat sich gründlich geändert. Viele dieser Passagiere schauen mich an wie eine Betrügerin, als ob sie mir vorwerfen, dass ich die Katastrophe nicht vorhergesagt habe!«
    »Nehmen Sie das bloß nicht persönlich, meine Liebe – sie suchen nur nach jemandem, dem sie die Schuld für den Verlust ihrer Lieben geben können!«
    Tara war Sorrel dankbar für diese Worte, aber sie fühlte sich nicht viel besser. »Haben Sie auch jemanden verloren?«, fragte sie.
    »Nein, Liebes, ich bin allein gereist. Mein Mann ist vor vier Monaten in unserem Haus in Kensington gestorben, nachdem er lange krank gewesen war.«
    »Oh, das tut mir Leid! Ich glaube, ich könnte es nur sehr schwer ertragen, jemanden, den ich liebe, so langsam dahinschwinden zu sehen.« Tara hatte noch nie ein Familienmitglied verloren. Obwohl sie schon so lange von ihrer Familie getrennt war und Garvie vielleicht niemals wiedersehen würde, kam ihr ein solches Schicksal ungleich schlimmer vor. Maureen und Michael zu verlieren war schon schrecklich genug, vor allem weil sie sich nicht erlauben durfte, vor den Kindern ihre Trauer zu zeigen.
    »Es ist kein solcher Schock, wie ihn die meisten dieser armen Leute hier durchleben mussten«, erwiderte Sorrel. »Eine Krankheit, vor allem eine so langwierige, gibt einem wenigstens die Möglichkeit, sich an den Gedanken zu gewöhnen,

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