Der Ruf des Abendvogels Roman
laute Worte der beiden Frauen abgelenkt, die sie beobachtet hatten, und auch viele der Umsitzenden blickten in deren Richtung.
»Miss Honeywell, ich sage es jetzt zum letzten Mal: Sie sindnicht mit Thomas verwandt. Ich muss ihn mit mir nehmen!« Die Frau in der Uniform des Roten Kreuzes verlor langsam die Geduld, doch ›Miss Honeywell‹ schien noch immer nicht bereit, das Kind herauszugeben.
»Und ich habe Ihnen gesagt, ich bin sein Kindermädchen. Wir waren noch nie voneinander getrennt, seit er geboren wurde, und er kennt hier niemanden außer mir. Haben Sie denn überhaupt kein Herz?« Die junge Frau begann zu schluchzen. Tara begriff, dass die Eltern des kleinen Thomas Passagiere der ersten Klasse gewesen sein mussten und Miss Honeywell bei ihnen angestellt gewesen war. Es hatten sich einige wohlhabende Familien an Bord befunden, die mit Kindermädchen gereist waren. Plötzlich fielen ihr Eleanor Craddock und Lavinia Bliss ein. Hatten sie überlebt, und wo mochten sie sein?
»Thomas hat so viel durchgemacht, und jetzt ist er ein Waisenkind. Ich bin doch alles, was er noch hat!« Miss Honeywell flehte und argumentierte, und Tara beobachtete sie nachdenklich. Baby Thomas, ein kräftiges Kind von etwa acht Monaten, klammerte sich an die junge Frau und schrie sich fast die Lunge aus dem Leib.
»Wenn Sie kein gesetzlicher Vormund oder eine leibliche Verwandte sind, können wir ihn nicht in ihrer Obhut lassen«, lautete die Antwort.
»Wie könnten Fremde sich besser um ihn kümmern als ich? Ich bringe ihn ja zurück nach England, zu seiner Familie, das verspreche ich. Aber bitte, nehmen sie ihn mir nicht weg!«
Sorrel und Tara wechselten einen Blick, und beide fühlten mit der armen Miss Honeywell. Ohne Zweifel hatte sie dem Kind das Leben gerettet, und nun nahmen es ihr die Behörden rücksichtslos fort. Mitleid spielte in dieser Angelegenheit jedenfalls keine Rolle.
Sorrel sah Tara eindringlich an. Es war eher unwahrscheinlich, dass man ihr erlauben würde, die Kinder zu behalten. Tara fühlte Furcht in sich aufsteigen und warf einen Blick auf Jack undHannah. Dann sah sie, wie Frauen in Uniformen der fast hysterischen Miss Honeywell das Kind entrissen. Sie versprachen, dass man sich mit dessen Verwandten in England in Verbindung setzen würde. Diese herzzerreißende Szene ließ Sorrel und Tara die Tränen in die Augen steigen, und sie führte Tara den Ernst der Lage vor Augen. Sie musste sich zusammennehmen und etwas tun, bevor es zu spät war – nur was?
Während sie schweigend dasaßen, sahen die beiden Frauen einen Vertreter der Schiffseigner Kennard und Rainer gemeinsam mit Beamten der Einreisebehörde im Raum umhergehen. Tara lächelte erleichtert, als sie ihn mit Eleanor und Roddy Craddock sprechen sah. Eleanor trug einen Arm in einer Schlinge, aber ansonsten schien das Paar unverletzt. Ihr Sohn stand in der Nähe und unterhielt sich mit einem anderen Jungen.
»Hat Sie schon irgendjemand wegen der Kinder angesprochen?«, fragte Sorrel leise, und in ihrer Stimme schwangen noch immer tief empfundene Gefühle mit.
»Nein, aber ich bin sicher, es wird nicht mehr lange dauern. Sie haben eine Namensliste und kommen nacheinander zu jedem von uns. Ich muss rasch handeln – aber was soll ich nur tun?«
»Wo genau lebt Ihre Tante?«
»In Tambora Station, in der Nähe von Wombat Creek. Ich glaube, das liegt viele Meilen nordwärts von Adelaide.«
Sorrels Augen begannen zu leuchten. »Ich bin sicher, dass der Zug, mit dem ich fahre, auf dem Weg nach Alice auch durch Wombat Creek kommt. Ich habe eine Karte ...« Sie unterbrach sich, als ihr bewusst wurde, dass sie nichts mehr besaß. Sie hatte nichts mehr außer dem Nachthemd, dass sie getragen hatte, als das Schiff sank, und einem abgetragenen Morgenmantel, den die Hoteliersfrau im Britannia-Hotel ihr freundlicherweise gegeben hatte. Fast alle Überlebenden trugen nichts als ihre Nachthemden und Schlafanzüge, denn zum Anziehen war ihnen keine Zeitgeblieben. Das Rote Kreuz gab an jeden der Passagiere Pakete mit gespendeter Kleidung aus, doch zu Tara und Sorrel war noch niemand gekommen.
»Ich hatte eine Karte«, fuhr Sorrel fort. »Und auf dem Schiff habe ich sie mir oft angesehen.« Sie hatte viele Stunden allein in ihrer geräumigen, aber allzu stillen Kabine verbracht und wenig anderes zu tun gehabt. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass der Zug dort entlangfährt. Mein Sohn hat schon eine Fahrkarte für mich bestellt, die ich mir in einem Reisebüro in
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