Der Ruf des Abendvogels Roman
dass Saladin alles andere als begeistert war – und ihr war klar, dass auch Ethan es nur ihrer Tante zuliebe tat. Nach einer Weile beendete er das hitzige Gespräch durch ein Machtwort; Saladin warf resigniert die Arme in die Luft und ging davon, um an die Hotelwand gelehnt vor sich hin zu brüten.
»Meine Anwesenheit gefällt ihm nicht«, stellte Tara unbehaglich fest.
»Nehmen Sie es nicht persönlich – die meisten Afghanen sind Moslems, und ihre Sitten unterscheiden sich sehr von den unseren.«
Tara verstand zwar nicht, was das mir ihr zu tun haben sollte, doch das würde sich wahrscheinlich bald herausstellen. »Man hat mir erzählt, Sie seien ebenfalls zur Hälfte Afghane«, meinte sie. »Leben Sie nicht nach dem muslimischen Glauben?«
»Nein. Mein Großvater war zur Hälfte Afghane, aber mein Vater ist in England aufgewachsen, und meine Mutter war Engländerin. Ich verstehe die Afghanen und kann gut mit ihnen arbeiten, aber ich richte mich nicht nach ihren Gebräuchen. Saladin wohnt in einer so genannten ›Ghan‹-Stadt, wo die afghanischen Familien abseits von den europäischen Gemeinschaften leben. Teilweise tun sie das freiwillig, aber meist zwingen die Weißen sie dazu.«
»Begleitet Saladin Sie denn auf jeder Reise?«
Ethan entging der Unterton in ihrer Stimme nicht. Obwohl er es nicht verstand, hatte er sich mittlerweile daran gewöhnt, dass die Leute sich in Gegenwart seines Mitarbeiters unbehaglich fühlten. »Auf den meisten. Victoria überlässt mir auf der Farm ein Stück Land, wo ich Kamele züchten kann. Ich verbringe einige Zeit dort, meistens ungefähr eine Woche im Monat, und während dieser Zeit geht Saladin zu seiner Familie.«
Taras stille Hoffnung war, Saladin werde das auch tun, wenn Ethan sie zur Farm hinausbrachte. Aber sie wagte nicht, es laut vorzuschlagen, um Ethan nicht wieder gegen sich aufzubringen. Es widerstrebte zwar ihrem Unabhängigkeitsdrang, doch sie brauchte ihn für diese Reise. In Zukunft würde sie ihren Weg in die Stadt allein finden, genau wie es ihre Tante ohne Zweifel auch tat.
»Spricht Saladin Englisch?«
»Nur ein paar Wörter. Aber verstehen tut er es sehr gut.«
Ein Blick zu Saladin hinüber sagte ihr, dass er ihre Fragetatsächlich verstanden hatte. Sie nahm sich vor, in Zukunft mehr darauf aufzupassen, was sie sagte.
»Warum ist dieses Kamel größer als die anderen?«, fragte Jack. Es war das erste Mal seit Stunden, dass er sprach, und das erste Mal seit dem Untergang des Schiffes, das er echtes Interesse an irgendetwas zeigte. Tara war sehr froh darüber.
»Hannibal ist das einzige männliche Tier«, erklärte Ethan.
»Sind die Hengste stärker als die Stuten?«, wollte Jack weiter wissen.
»Ein bisschen, aber die Stuten sind auch gute Lastenträger. Wenn ich mehr als einen Hengst halten würde, würden sie um die Stuten kämpfen. Diese Stuten hier sind Hannibals Harem, und wie ein Scheich hat auch er seine Lieblingsfrau.«
Tara schritt an der Linie der aufgereihten Kamele entlang, die als Kette bezeichnet wurde. Sie hörte Jack fragen, was ein Scheich sei, und sein Lachen, als Ethan antwortete: »Ein sehr glücklicher Mann.« Ihr fiel auf, dass Ethan mit dem Kind viel freundlicher umging als mit ihr. Dann schaute sie zu Saladin hinüber, der ihr einen weiteren feindseligen Blick zuwarf, bevor er sich noch weiter zurückzog.
»Das hier ist Layla«, erklärte Ethan dem Jungen. »Sie ist Hannibals Liebling, und meiner auch.« Er sah Tara an, als er fortfuhr: »Deine Mutter kann mit deiner Schwester auf ihr reiten.«
Tara fing Jacks Blick auf, in dem plötzlich wieder der Schmerz aufschien, und ihr Herz zog sich vor Mitgefühl zusammen. Ethans Worte hatten ihn an seine richtige Mutter erinnert und die Trauer zurückgebracht, die er für ein paar Augenblicke vergessen hatte.
Ethan hielt Jacks ernste Miene für Besorgnis und meinte beruhigend: »Deine Mutter und deine Schwester sind auf Laylas Rücken ganz sicher.«
Tara war in Gedanken gewesen und hatte den Sinn von Ethans Worten zuerst nicht ganz erfasst. Doch als sie schließlich begriff, wehrte sie angstvoll ab: »Oh nein, wir werden nicht auf ihrreiten!« Der Gedanke versetzte sie regelrecht in Panik, die sie nicht länger zu verbergen vermochte. Hannah, die alles begriffen zu haben schien, klammerte sich mit vor Angst geweiteten Augen an Taras Beine. Tara fuhr fort: »Mir ist es egal, ob wir laufen müssen – wir steigen jedenfalls nicht auf dieses Kamel, und auch auf kein
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