Der Ruf des Abendvogels Roman
ein Geschenk des Himmels erschien.
»Ich wüsste gern, wie Sie erfahren haben, dass ich hier wohne«, meinte Charlotte, die noch immer am Fenster stand.
»Von Percy Everett«, erklärte Tara und betupfte ihren Hals mit einem Parfum getränkten Taschentuch. Der Duft erinnerte sie an Sorrel, und sie fragte sich, was die Freundin jetzt wohl in Alice gerade tat. Dann wandte sie sich wieder Charlotte zu und sah etwas wie Traurigkeit im Blick der blauen Augen.
»Was hat er Ihnen über mich erzählt?«, fragte sie, und ihre Stimme zitterte leicht. Tara sah, dass sie sich vor der Antwort fast ein wenig zu fürchten schien, und beschloss, sehr behutsam zu sein.
»Also, ich habe mich im Hotel mit Ferris unterhalten, als Percy hereinkam. Ich sagte gerade, dass das Leben hier draußen sehr einsam sein muss – ich bin kaum ein paar Stunden hier und fühle mich schon von allem isoliert. Ferris hat mir von seiner Hochzeit mit Charity und der bevorstehenden Geburt ihres Kindes erzählt und meinte, dass er nun nie mehr einsam sein würde. Percy hatte seine Worte gehört und sagte, Ferris sei nie einsam gewesen, weil er ...«
»Weil er mit mir zusammen war!«, beendete Charlotte Taras Satz.
»Ja, das stimmt.«
Lotties Haut hatte die Farbe von Mohnblumen angenommen, doch Tara war in Gedanken und bemerkte es nicht. Sie versuchte sich Ferris Dunmore in seinem ausgeleierten Unterhemd und mit aufgerollten Hosenbeinen auf Charlottes Veranda vorzustellen. Das Bild von Ferris’ riesigen, schmutzigen Füßen auf dem schönen Orientteppich stieß sie regelrecht ab. Sie fand es fast unmöglich, sich ihn in diesem eleganten Wohnzimmer vorzustellen, und ihre Fantasie sträubte sich, als sie sich bemühte, Charlotte und ihn im Geist dort beisammen zu sehen.
»Als ich hörte, dass es in der Stadt noch eine Frau gibt, wollte ich Sie kennen lernen«, meinte Tara. »Percy hat mir nur ganz vage den Weg erklärte, also habe ich Ethan gefragt.« Jetzt sah sie Besorgnis in der Miene der Älteren und begriff, dass irgendetwas absolut nicht stimmte. Als Charlotte auch weiterhin schwieg, fuhr sie fort: »Ethan hat sich zwar nicht sehr deutlich ausgedrückt, aber er hat mir zu verstehen gegeben, dass ich nicht herkommen sollte.«
Charlotte, die sich mittlerweile gesetzt hatte, sah jetzt sehr betroffen aus, und Tara bereute, ihr von Ethans Reaktion erzählt zu haben.
»Vielleicht hätte ich auf ihn hören sollen. Ich war wie meistens zu impulsiv und habe nicht daran gedacht, dass Sie vielleicht keine Besucher wollen und ich Sie stören könnte. Wenn das so ist, verzeihen Sie mir bitte!«
Charlotte richtete sich auf, senkte dann jedoch den Blick. »Ethan hatte Recht – Sie wären besser nicht hergekommen. Es ist nicht so, dass ich keine Besuchter mag, im Gegenteil, ich habe gern Gesellschaft. Aber es stimmt, Sie sollten nicht hier sein.«
»Darf ich fragen, warum nicht?«
»Sie wissen es wirklich nicht, oder?«, meinte Charlotte leise.
Tara schüttelte den Kopf. Sie fühlte sich plötzlich sehr einfältig. Was mochte sie übersehen haben? »Ich habe Ethan keine Gelegenheit gegeben, etwas zu erklären. Aber wie ich die Dinge sehe,braucht es auch keine Erklärungen. Sie sind eine Frau, die an einem einsamen Ort lebt, und ich wollte Sie kennen lernen. Alles andere ist völlig unwichtig.«
Charlotte sah sie an, als wünschte sie, alles sei so einfach. »Ich glaube, ich sage Ihnen lieber, was ich tue, Tara – dann werden Sie alles verstehen.«
Tara war verblüfft, doch sie blieb schweigend sitzen und wartete gespannt auf Charlottes Erklärung.
Diese mied den Blick aus Taras grünen Augen, indem sie in ihr Glas starrte. »Dieses Haus ist ein ... Bordell.«
Tara riss die Augen auf. Hatte sie richtig gehört? Das konnte doch nicht sein!
Die Ältere hob den Kopf, blickte sie direkt an und erkannte Taras innere Weigerung, das Gehörte zu glauben. »Ein Hurenhaus«, fügte sie hart hinzu. Ihre Miene war verschattet, und in den blauen Augen malte sich Schmerz. »Ich bin ... eine Prostituierte.«
Plötzlich passte alles zusammen, was die Männer gesagt hatten. ›Charlotte war nie allein – die Männer haben sie oft besucht ...‹ Tara blickte sich im Raum um und begriff, dass die plüschbeladene Gemütlichkeit ihren ganz bestimmten Sinn hatte. Das Zimmer war alles andere als das Wohnzimmer einer Familie – wie hatte sie nur so blind sein können! Es hatte genug Hinweise gegeben: Charlottes übertriebenes Make-up, die Tatsache, dass sie am frühen
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