Der Ruf des Abendvogels Roman
Abend schon ein Nachthemd trug, das Fehlen jeglicher Familienfotos und Erinnerungsstücke ... Tara dachte an die Freudenhäuser, die sie in Irland gesehen hatte, schmutzige, von Ratten nur so wimmelnde Hütten voller verlauster, kranker Prostituierten. Charlotte war in dieser Hinsicht wirklich eine Überraschung, besonders hier im Outback.
Trotzdem ärgerte sich Tara über sich selbst. Normalerweise war sie sehr aufmerksam, ihr entging nicht viel, doch dieses Mal war ihr nicht einmal der allergeringste Verdacht gekommen. Sie schüttelte den Kopf, wütend auf sich selbst, weil sie Charlotte praktisch gezwungen hatte, ihre Situation zu erklären, und nochwütender darüber, dass die Männer ihr nichts gesagt hatten. Hier im Outback schien ihr gesunder Menschenverstand nicht zu funktionieren, was sie als Zeichen dafür wertete, dass sie nicht für das Leben im Busch bestimmt war.
Charlotte jedoch hielt Taras Ärger für Ekel. Sie stand auf und meinte mit gesenktem Kopf: »Danke, dass Sie mir die Küken gebracht haben, Tara.« Sie wirkte jetzt sehr kühl. Diese Haltung diente ihr als Schutzwall gegen den Schmerz, der sich jedes Mal einstellte, wenn sie als ›Abschaum‹ entlarvt wurde.
»Ich ... ich bin nicht hier, um über Sie zu urteilen, Charlotte«, stammelte Tara.
»Sie müssen nicht höflich sein«, erwiderte die Ältere, den Blick noch immer gesenkt. »Ich verstehe Sie schon.«
»Ich versichere Ihnen, dass ich nicht nur höflich sein will«, beharrte Tara, um dann zögernd hinzuzufügen: »Ich weiß selbst, wie es ist, wenn man ständig Vorurteilen und Verachtung ausgesetzt ist.«
Charlotte wagte einen vorsichtigen zweifelnden Blick in Taras Gesicht. Sie hätte nichts lieber getan, als den Worten der Jüngeren Glauben zu schenken. Aber sie fürchtete sich davor, wieder verletzt zu werden. »Aber doch sicher nicht aus den gleichen Gründen, nicht wahr?«
»Nicht ganz genau ...«
Charlotte wandte sich ab und blickte aus dem Fenster nach draußen, wo die Sonne gerade als glühender Feuerball hinter dem Horizont verschwand. Das leuchtende Rot des Himmels war wie der Vorbote für die Hitze des folgenden Tages.
Charlotte war erleichtert, dass eine so sympathische junge Frau nicht gezwungen gewesen war, ihren Körper für Geld zu verkaufen. Sie selbst wusste nur zu gut, was für ein entwürdigendes Leben das war. Durchreisende Mädchen hatten ihr von einigen der grausamen Bordellbesitzerinnen in Städten wie Darwin, Katherine und Cooper Peedy erzählt und davon, wie schlecht sie dort behandelt worden waren. Sie hatte vielen von ihnen geholfen, einbesseres Leben anzufangen, nur für ihr eigenes war es zu spät gewesen. Wie konnte Tara verstehen, was es bedeutete, verdammt und ausgestoßen zu sein?
»Die Gründe hätten genauso gut dieselben sein können«, meinte Tara jetzt.
Charlotte wandte sich ihr zu. Sie wirkte traurig und sehr müde. »Sie sind eine schöne Frau«, sagte sie und dachte insgeheim, dass Tara als Prostituierte sicher sehr erfolgreich gewesen wäre – sie besaß etwas, das Männer anzog. »Ein Blinder könnte sehen, dass Sie aus einer guten Familie stammen. Weshalb sollte man Sie verachten?«
Tara überlegte einen Moment. Sie wollte Charlotte gegenüber gern offen sein, doch war Vorsicht geboten. Sie hatte einmal den Fehler gemacht, sich Riordan Magee anzuvertrauen. Eine demütigende Erfahrung, nach der sie sich wie eine Lügnerin und reichlich dumm gefühlt hatte. Damals hatte sie geschworen, nicht noch einmal den gleichen Fehler zu machen. Während sie noch überlegte, ob sie ihr Geheimnis für sich behalten oder es mit Charlotte teilen sollte, begegnete sie deren Blick und sah die die Qual in den blauen Augen. Obwohl sie ihren Instinkten nicht recht traute, spürte sie, dass sie sich der Älteren ruhig anvertrauen konnte, und vielleicht würde sie es irgendwann tun. Doch jetzt musste sie schweigen, mehr ihrer Tante und der Kinder wegen als um ihrer selbst willen. Nur – wie sollte sie ehrlich zu Charlotte sein, ohne ihr alles zu erzählen?
»Charlotte, ich habe ein Leben gelebt, das für die Gesellschaftsschicht, in die ich hineingeboren wurde, nicht akzeptabel war. Verkauft habe ich mich nicht ...« Ihre Stimme zitterte, als ihre Gefühle sie zu überwältigen drohten, wie jedes Mal, wenn sie an Stanton Jackson und ihren Vater dachte, an dessen Verrat und die Folgen. »Ich bin neu in Wombat Creek und möchte meine Vergangenheit hinter mir lassen ...«
»Ich verstehe«, erwiderte
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