Der Ruf des Abendvogels Roman
Charlotte. »Sie brauchen nichts zu erklären.«
»Ich hoffe, Sie können mich verstehen. Ich versuche, so ehrlich zu sein, wie ich kann. Jedenfalls habe ich absolut kein Recht, über Sie zu richten, und werde es auch ganz sicher nicht tun.«
Charlotte wirkte trotzdem noch immer elend, so als änderten Taras Worte nicht viel. Tara dachte, dass die andere ihr vielleicht nicht glaubte, doch Charlotte hatte ihre durchstochenen Ohrläppchen, ihre abgebrochenen Nägel und ihre raue Haut an den Händen durchaus bemerkt und daraus geschlossen, dass sie während der vergangenen Jahre nicht das Leben einer verwöhnten Frau aus reichem Haus geführt hatte.
»Ich kann nicht erwarten, dass Sie mir glauben, schließlich haben wir uns gerade erst kennen gelernt. Aber wenn Sie wollen, wäre ich ehrlich froh, wenn wir Freundinnen sein könnten.«
Charlotte ließ sich ganz langsam auf einen Stuhl sinken, sichtlich erschrocken, als glaube sie, nicht richtig gehört zu haben. »Aber warum? Warum sollten Sie ausgerechnet mich zur Freundin haben wollen?«
Tara lächelte leicht. »Freunde kann man nie genug haben ...« Ernster fügte sie hinzu: »Ich sage es nicht gern, aber ich habe nicht viele davon. Außerdem ist es hier so abgelegen und einsam, und es gibt nicht viele Frauen – es wäre sicher schön, eine Freundin in der Stadt zu haben!«
Charlotte fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht. »Es ... es tut mir Leid. Ich bin es inzwischen so gewohnt, als Abschaum behandelt zu werden, dass ich nie darauf gekommen wäre, Sie könnten in mir eine ... Freundin sehen!« In ihren blauen Augen schimmerten Tränen. »Das ist seit langer, langer Zeit das Netteste, das jemand zu mir gesagt hat!«
»Es ist mir absolut ernst damit, Charlotte!«
Lottie tupfte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. »Das sehe ich. Aber Sie ahnen nicht, was eine Freundschaft mit mir für Sie für Folgen haben würde. Obwohl die Farmen viele Meilen voneinander entfernt sind, verbreiten sich Gerüchte zum Beispiel über Funk sehr schnell – und wie grausam sie manchmal sind ...« Sieunterbrach sich, und Tara sah die noch immer schmerzende Kränkung in ihrem Blick. »Wäre es Ihnen egal, wenn die Leute über Sie reden?«
»Um ehrlich zu sein, ich bin es gewohnt.« Tara hatte nicht vor, ewig hier draußen in der Einsamkeit zu bleiben; was sollte es sie da stören, wenn die Leute über sie redeten? Charlotte war ein guter Mensch, und sie sehnte sich ebenso sehr nach Zuneigung und einer Freundin wie Tara selbst. Tara verstand sie nur zu gut. »In so einer kleinen Gemeinschaft ist es nur eine Frage der Zeit, bis meine Vergangenheit mich wieder einholt, also werden sie sowieso über mich reden. Aber ich weiß aus Erfahrung, dass sie dessen irgendwann müde werden und sich ein anderes Opfer suchen.« Das war zwar nicht notwendigerweise so, aber Tara wollte nicht, dass Lottie sich ihretwegen Gedanken machte. Als Zigeunerin war sie immer ein willkommenes Opfer gewesen, und das hatte auch niemals aufgehört.
»Sie sind nie müde geworden, sich über mich die Mäuler zu zerreißen«, murmelte Charlotte, während sie sich resigniert in den Plüschsessel zurücksinken ließ. »In einer kleinen Stadt wie dieser gibt es nicht allzu viele andere Themen, auf die sie sich stürzen könnten. Aber es wäre wirklich schön, eine richtige Freundin zu haben – und dann noch eine so feine Dame!« Sie sprach, als sei diese Vorstellung für sie nichts als ein schöner Traum.
Tara lachte leise auf. »Wenn du mich eine Dame nennst, hast du mich noch nicht fluchen gehört!«
Die Ältere verzog den Mund zu einem leichten Lächeln, und auf ihren faltigen Zügen malten sich zugleich Trauer und Verwunderung. »Die wenigen Freunde, die ich habe, nennen mich Lottie«, sagte sie. »Aber du musst bitte verstehen, dass wir unsere Freundschaft nicht offen zeigen können.«
»Aber warum denn nicht?«, fragte Tara kampfeslustig, die den Grund schon ahnte.
Doch statt darauf einzugehen, erkundigte sich Lottie: »Wirst du auf einer der Farmen hier in der Nähe wohnen?«
»Ja – Gott helfe mir! In Tambora.«
Lotties Züge entspannten sich, und Tara dachte, dass sie nicht im Mindesten überrascht wirkte. »Bist du mit Victoria verwandt?«
»Ja – sie ist meine Tante. Sind Sie ... seid ihr befreundet?«
Lotties leichtes Lächeln wich einem ernsten Ausdruck, und der Glanz in ihren Augen erlosch. »Himmel, nein. Victoria ist wie du eine echte Lady. Wir könnten niemals Freundinnen sein.« Denn
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