Der Ruf des Bösen: Die Erleuchtete 2 - Roman (German Edition)
einen Witz erzählt und ich dazu die Pointe geliefert: »Stimmt.«
Zunächst analysierten wir den angestrebten Weg: Wir würden uns als Erstes an den Säulen neben der Statue hochschieben.
Bei meinem ersten Versuch stürzte ich ab, sauste in die Tiefe und schlug so heftig auf, dass ich dabei Staub aufwirbelte. Ich landete auf der Seite. Meine rechte Körperhälfte fühlte sich von der Schulter bis zum Fuß taub an.
Aber meine Muskeln hatten jetzt wirklich keine Zeit, sich zu beklagen. Wir gaben alles und erreichten die Spitze gegen 23.45 Uhr, beinahe gleichzeitig zogen wir uns hoch. So waren Lance und ich eben: Jedes Mal, wenn einer von uns den Dreh raushatte, gab der andere einfach alles, um so bald wie möglich nachzuziehen. In Sachen Geschicklichkeit, Stärke und Ehrgeiz waren wir uns einfach sehr ähnlich. Ich bekam ein ganz schlechtes Gewissen, als mir das genau in diesem Moment durch den Kopf ging, in dem wir doch in anderer Hinsicht so gar nicht mehr im Einklang waren. Jetzt lagen wir auf dem Gipsdach der Gruft und rangen nach Luft. Ich starrte in den dunklen Nachthimmel, an dem heute kein einziger Stern blinkte. Lediglich eine schmale Mondsichel war zu sehen. Wir konnten über ein paar Reihen von Gräbern hinwegschauen und blickten direkt auf die Rasenfläche hinunter, die von Sicherheitsleuchten erhellt wurde. Lance schüttelte sein Handgelenk, um seine Uhr zurechtzurücken und einen Blick darauf zu werfen. »Wir haben noch fünfzehn Minuten Zeit. Nicht schlecht.«
Wir nahmen unseren Platz hinter einer Kuppel ein, auf der ein unbekannter Heiliger thronte. Auf einmal fühlte sich das an wie immer, wir waren hier ganz in unserem Element. Ich war mir nicht sicher, ob es am Adrenalin lag oder daran, dass ich auf einmal wieder Zeit mit Lance allein verbrachte und in der Dunkelheit seinem Atem lauschte, oder ob ich mich mit einem Mal endlich wieder wie ich selbst fühlte, aber ich wollte die Dinge jetzt gern mit ihm klären.
»Hör mal«, begann ich also. »Was diese Woche angeht … das alles eigentlich.« Ich flüsterte die Worte, die eine weiße Flagge zu schwenken schienen. »Es tut mir leid. Das ist alles ein wenig … außer Kontrolle geraten, oder?«
»Ja«, ertönte schließlich seine Stimme. »Ich weiß. Es war einfach so viel auf einmal. Ich denke, in den nächsten Wochen oder Monaten oder so müssen wir uns eben aufs Wesentliche konzentrieren, bis das alles vorbei ist.«
»Uns konzentrieren …«, wiederholte ich und versuchte einzuschätzen, worauf er damit wohl hinauswollte.
»Genau. Du weißt schon, darauf, nicht umgebracht zu werden?«
»Natürlich. Klar.«
»Und deshalb sollten wir vielleicht den ganzen … Rest besser vergessen.«
Ich ahnte, wohin das führte, das Gefühl setzte sich in meiner Magengrube fest und machte mich ganz krank. Ich würde nicht zulassen, dass so was mit mir passierte. »Das ganze Drama. Richtig.«
»Richtig.«
»Also sollten wir vielleicht einfach …« Ich suchte nach dem passenden Wort. Ich wollte nicht diejenige sein, die es aussprach, aber noch viel weniger wollte ich, dass man es zu mir sagte. Das waren die beiden einzigen Möglichkeiten, also redete ich weiter, als steckten wir inmitten einer grauenhaften Verhandlung. » … eine Pause machen?«
»Eine Pause. Genau«, bestätigte er und seufzte, als hätte er an dieser Stelle ein Lesezeichen hinterlegt und unser Kapitel damit abgeschlossen. »Und uns dann, du weißt schon, später über alles klar werden.«
»Nachdem diese Geschichte mit dem Überleben vom Tisch ist?«
»Ja. Okay?« Während des ganzen Austausches schaute er mich jetzt zum ersten Mal an, und zwar nur ganz kurz, als sei es nichts weiter als eine höfliche Geste. Aber so konnte er wenigstens nicht sehen, was für feuchte Augen ich bekommen hatte. Ich war dankbar für die Dunkelheit.
Was hatte ich denn für eine Wahl? Ich nickte und versuchte, meine Stimme unter Kontrolle zu kriegen. »Sicher, das ist besser, als nun alles auf einmal in Angriff zu nehmen.«
»Hey«, sagte er jetzt noch leiser. »Hast du das gehört?«
Hatte ich nicht. Es fiel mir schwer, den Rest der Welt wieder einzublenden und auf die Dinge zu achten, die wichtig waren, wenn ich weiter leben und atmen wollte. Aber jetzt gerade fühlte es sich eher so an, als täte ich keins von beidem. Der Abend, an dem ich Lucian geküsst hatte, war ein Dorn in meinem Fleisch. Zum Teil war die ganze Geheimniskrämerei einfach aufregend gewesen, aber eigentlich hatte ich mich vor
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