Der Ruf des Bösen: Die Erleuchtete 2 - Roman (German Edition)
hätte gerade jemand sein Leben verloren.
Ich versuchte, nicht allzu geschockt zu wirken, weil ich sie hier antraf. Durch das Fenster fiel das orangefarbene Leuchten der Abendsonne herein und umfing sie. Ich kam mir plötzlich wie ein Eindringling vor.
»Also, was gibt’s?«, fragte Lance.
»Oh, nichts, oder, ich meine …« Ich suchte nach Worten, versuchte irgendetwas vorzubringen, das es so klingen ließ, als wäre alles in Ordnung und als würde mich ihre traute Zweisamkeit überhaupt nicht stören. »Also, Emma ist gerade an mir vorbeigelaufen, und zwar in Tränen aufgelöst.«
»Verständlich, Jimmy und sie haben sich getrennt«, erklärte Sabine so gelassen, als sei ich hier die Letzte, die das mitbekam. »Dieses Hin und Her bei den beiden … echt verrückt.« Sie schüttelte den Kopf. »Setz dich doch zu uns. Lance erzählt mir gerade alles über euer Leben an der Evanston High.«
»Ja, da geht’s echt ab«, behauptete ich tonlos. »Ich bring nur eben meine Tasche weg und bin gleich wieder da.« Aber das hatte ich nun wirklich nicht vor, aus irgendeinem Grund riet mir mein Bauchgefühl, hier besser das Feld zu räumen.
»Cool«, sagte sie herzlich und wandte sich wieder ihrem Spiel zu.
Auch Lance starrte jetzt auf den Bildschirm und warnte: »Hey, du verlierst gleich ein Leben!« Ich machte die Tür hinter mir zu.
Was wollte sie bloß hier? Warum nahm mich das nur so mit? Denk daran, was Dante gesagt hat , ermahnte ich mich. Du machst hier aus einer Mücke einen Elefanten. Du kannst ja nicht mehr klar denken. Du hattest einfach ein paar harte Tage. Ich versuchte, nachsichtig mit mir selbst zu sein, aber das alles nagte einfach an mir.
Zurück in meinem Zimmer griff ich nach meinem Fotoapparat und den Anschlusskabeln. Ich stieß ein Knurren aus, als ich an Lance’ Zimmer vorbeikam, und setzte dann meinen Weg zum Büro mit den Computern fort. Außer mir hielt sich dort niemand auf. Ich hatte es nicht nötig, meine Zeit mit Videospielen zu vergeuden, wie Lance und Sabine. Zuerst checkte ich meine E-Mails – zu den Highlights gehörten drei Nachrichten von Joan (sie hatte mir jeden Tag geschrieben). Dann machte ich mich daran, die Fotos von unserem Ausgehabend und eine der heutigen Aufnahmen von Mariette auszudrucken.
Ich musste Inventur machen, was die Seelen um mich herum anging, und sie dann überwachen. Ich kannte keine andere Möglichkeit, wie ich hätte erfassen sollen, wer für uns vielleicht eine Gefahr darstellte. Nach und nach würde ich lernen, wem ich vertrauen konnte, wen ich fürchten musste und wer schließlich in die Unterwelt verbannt werden musste.
Ich klickte ein paar der Gruppenbilder von uns Freiwilligen an und kopierte jedes der winzigen Gesichter in ein neues Dokument, so dass ich es einzeln ausdrucken konnte. Wenn ich hier jemanden um mich hatte, um den ich mir Sorgen machen musste, dann sollte ich das so schnell wie möglich mitkriegen.
Als ich fertig war und ein dicker Stapel Bilder vor mir lag, war es draußen längst dunkel geworden. Sabine war immer noch nicht zurück in unserem Zimmer. Ich schob die Fotos in die unterste Schublade meines Nachttischchens und schwor mir, sie jeden Tag darauf zu untersuchen, ob sich bei irgendwem Mutationen oder Verunstaltungen zeigten, die ein sicheres Zeichen dafür waren, dass der Porträtierte im Begriff war, seine Seele zu verlieren. Ein Engel ohne Flügel kam nicht besonders weit, aber als Seelenerleuchterin, wie man mich genannt hatte, schien ich wenigstens ein kleines bisschen Macht zu haben. Ich fragte mich, ob in unserer Runde wohl noch jemand über diese Fähigkeit verfügte. Hoffentlich nicht. Ich hatte mich an den Gedanken gewöhnt, anders und ganz besonders zu sein, nur um mit einem Mal festzustellen, dass das ganze Haus voller Leute wie ich war, und daran musste ich mich erst einmal gewöhnen.
Es war schon fast Mitternacht, als Lance an meine Tür klopfte. Die war nicht abgeschlossen, also kam er einfach herein und kletterte die Leiter zu mir hoch.
»Hey, was ist denn mit dir heute Abend passiert?«, fragte er und ließ sich am Fußende meines Bettes nieder.
»Oh, na ja, ich hab ein paar Bilder ausgedruckt und war so in die Sache vertieft, dass die Zeit wie im Flug vergangen ist.« Ich gab mein Bestes, um ganz locker und normal zu wirken, merkte aber, dass ich ziemlich aufgebracht klang. Also machte ich zum Beweis die Schublade auf, zog den Stapel Bilder heraus und wedelte damit herum.
Er griff danach und blätterte
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