Der Ruf des Bösen: Die Erleuchtete 2 - Roman (German Edition)
Ich musste die ganze Zeit daran denken, dass es mir nach so einer Katastrophe mit Sicherheit nicht so leicht gefallen wäre, die Bilder aus meinem Gedächtnis zu verdrängen. Ich hatte selbst genug traumatische Erlebnisse hinter mir, und es kam mir so vor, als ob ich in der einen oder anderen Hinsicht jeden Tag daran dachte. Ich hatte den Schrecken immer im Hinterkopf, irgendwo lauerte er dort und war stets bereit, sich auf mich zu stürzen. Aber wahrscheinlich war das auch eine gewisse Motivation und trieb mich an.
Mit kleinen, neugierigen Händen bauten die Kids runde Gestelle für Tomatenpflanzen. Wir steckten sie so in die Erde, dass die Zweige durch das Gitter wachsen würden. In einem anderen Beet säten wir Basilikum, Thymian, Salbei, Rosmarin und alle möglichen anderen Kräuter, und am Ende des Tages schickten wir die Kleinen mit Samentütchen nach Hause, die der Botanische Garten von New Orleans gespendet hatte. Als auch der letzte Schüler gegangen war und wir nach stundenlangem Pflanzen und Wässern mit Dreck unter den Fingernägeln aufräumten, zog Dante ein paar zackige, vierteldollargroße tiefrote Samen aus der Tasche, außerdem noch ein paar windmühlenförmige türkise Früchte und drei lilafarbene, etwa zigarettenlange Stückchen Schilf. Die schob er alle in einem Bereich des Gartens in die Erde, der verborgen hinter einem Schutzwall aus Begonien lag.
»Sind die von da, wo ich glaube, dass sie her sind?«, fragte ich.
Er nickte, drückte jeden einzelnen Samen in den Boden und deckte ihn gut zu. »Das sind die letzten, die mir bleiben – und ich habe wirklich nicht vor, mich auf den Weg in die Unterwelt zu machen, um dort noch welche zu ernten.«
»Meinst du denn, die wachsen hier?«
»Das will ich schwer hoffen, weil nämlich jedes Rezept, jeder Zaubertrank, den ich kenne, eine Kombination davon enthält.«
»Na dann, Abrakadabra!« Ich wedelte mit den Fingern über dem Beet herum. »Simsalabim!«
»Danke, ja, jetzt wird das bestimmt was.« Er lachte.
Weil Dante und ich später Nachtwache hatten, durften wir uns die Nachhilfe heute sparen. Connor holte uns ab und brachte uns nach Hause. Wir duschten, und dann begleitete ich Dante zu Mariette, weil er versprochen hatte, ihr abends ein, zwei Stunden auszuhelfen, dann schlenderte ich allein nach Hause zurück. Seit wir hier angekommen waren, hatte ich so wenig Zeit für mich selbst gehabt, es kam mir vor, als sähe ich die Stadt mit ganz neuen Augen, wenn ich allein umherwandern und endlich einmal durchatmen konnte.
Als ich an der LaLaurie-Villa vorbei kam, erregte sanftes Licht meine Aufmerksamkeit: die Kerze. Hätte die überhaupt gebrannt, wenn ich nicht allein gewesen wäre? Konnte ich sie nicht vielleicht einfach ignorieren? Würde ich es wagen, hineinzugehen? Ich stand so lange auf dem Bürgersteig und starrte den Lichtschein an, dass ich bereits befürchtete, ihn vielleicht mit meinem bloßen Blick auszulöschen. Aber da mir klar war, dass ich ihn mir ja doch nicht aus dem Kopf schlagen konnte, ging ich schließlich rüber zum Eingang. Der Knauf gab bei der leisesten Berührung nach, und die Tür öffnete sich mit einem Knarren. Ich holte tief Luft und ging hinein.
Im Inneren herrschte völlige Stille, ganz anders als beim letzten Mal, als Maschinen gerattert und gedröhnt hatten. Da langsam die Sonne unterging, wurde das Foyer von Minute zu Minute düsterer. Das Flackern der Flamme lockte mich erneut. Und wieder schaute unter dem Kerzenhalter ein Stück Papier hervor. Ich zog es heraus und faltete es auseinander. Darauf stand einfach nur: Hi, Haven.
Das war seine Handschrift, ich war mir ganz sicher. Das Blut rauschte mir in den Ohren, mein Herz begann zu rasen.
Und dann spürte ich, wie mich etwas ganz leicht am Rücken streifte, als würde ein Blatt von einem Baum fallen. Ich fasste nach hinten.
Und traf dort auf eine Hand. Starke Finger, die ganz sanft auf meiner Schulter ruhten.
Keuchend fuhr ich herum.
Lucian.
Er übte ganz leichten Druck aus. Ich wusste, wie viel Angst in meinen Augen stehen musste, als ich ihn anstarrte. War das überhaupt er? Oder vielmehr der Fürst? »Schrei jetzt bitte nicht, Haven. Bitte«, bat er mit sorgenschwerem Blick. Aber das war gar nicht nötig. Ich fand meine Stimme nicht wieder, der Schock lähmte mich völlig. Eine Hand auf meiner Schulter, die andere auf meinem Arm schob er mich vom Fenster weg. Hatte ich etwa Halluzinationen? Träumte ich das vielleicht nur? Ich hatte das Gefühl, dass
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