Der Ruf des Bösen: Die Erleuchtete 2 - Roman (German Edition)
ich meinen Körper verließ und mich von oben betrachtete, aber nicht aktiv an der Szene teilnahm. Wenn ich volle Kontrolle über mich hätte, würde ich dann weglaufen, gegen ihn ankämpfen oder vielleicht sogar schreien? Wach auf, Haven! Jetzt fand ich wieder genug Kraft, um mit ihm zu ringen, um mich zu schlagen und nach ihm zu treten, während er mich mit dem Rücken an die Wand schob. »Bitte. Ich verspreche auch, dass ich dir nicht wehtue.« Es war nicht das erste Mal, dass er das zu mir sagte. Er wusste, dass ich starr vor Angst sein musste. Wahrscheinlich fühlte er sogar, wie ich zitterte.
Er stand jetzt direkt neben mir und flüsterte mir die Worte zu, jetzt sah er aber ganz anders aus als am Abend der Party, an dem ich geglaubt hatte, es wäre er, obwohl es in Wirklichkeit der Fürst gewesen war. Er war nicht derart auf Hochglanz poliert, stattdessen wirkte er erschöpft, mitgenommen, wie erschlagen. In seinen matten grauen Augen glitzerte nicht mehr das geheimnisvolle Funkeln, das man auch in dieser Dunkelheit problemlos gesehen hätte. Diese Augen, die doch immer gewusst hatten, wie sie mich am besten einfingen und festhielten, blickten jetzt gequält drein. Er trug denselben Smoking wie bei unserer letzten Begegnung, in jener furchtbaren Frühlingsnacht, in der er mich gezwungen hatte, ihn zurück in die Unterwelt zu schicken, ihn durch diese Tür zu stoßen, hinter der er die Strafe für verbüßen musste, dass er mich nicht getötet hatte. Er war damals einfach zu barmherzig dafür gewesen, seinen Auftrag auszuführen, und hatte seitdem mit Sicherheit darunter gelitten.
Ich hatte meinen Atem nicht unter Kontrolle, mein Keuchen hallte in meinem Kopf wider, so dass ich sein leises Flüstern kaum verstand: »Hör mir doch bitte zu, Haven. Du musst vorsichtig sein. Sei auf der Hut. Die haben dich im Visier. Und überleg dir gut, wem du von mir erzählst.« Einen Moment wandte er den Blick ab. Ich schloss die Augen und versuchte, mich auf meine Narben zu konzentrieren, die ich in jener Nacht im Garten einfach ignoriert hatte. Ich hatte nicht das Gefühl, dass sie stachen oder brannten. »Ich sollte gar nicht hier sein«, fuhr er fort. »Aber das ist der einzige Ort, an dem ich dich sehen kann, und ich … ich musste einfach kommen. Ich werde dir helfen, aber ich brauche auch deine Hilfe. Bitte. Bald.« Er ließ mich los und entfernte sich dann rückwärts. Dabei war kein Laut zu vernehmen, man hörte seine Schritte nicht auf dem Holzfußboden. Er legte die Finger auf die Lippen, bat mich zu schweigen, dann drehte er sich um und ging einfach davon. Ich blieb wie angewurzelt stehen und sah ihm hinterher. Irgendwann blickte er noch einmal über die Schulter zurück, und ich spürte, dass plötzlich meine Wangen brannten, so wie damals, als wir uns gerade erst kennengelernt hatten und ich noch keine Ahnung gehabt hatte, wer oder was er war.
Dann hörte ich aus einiger Entfernung eine Stimme. Sie erklang so unscharf und dumpf, wie man die Dinge vom Grund eines Swimmingpools aus vernahm. Ich zwang mich zurück in die Gegenwart.
»Oh, hallo. Ich dachte mir doch, dass ich da jemanden gehört habe. Du hast Glück – ich hätte dich beinahe eingeschlossen.« Es war der Boss von Lance. »Deine Freunde sind heute gar nicht hier. Nächste Woche haben wir sie dann wohl wieder. Ich sperre gerade überall ab.«
So mitgenommen, wie ich war, brachte ich kaum ein Wort heraus.
»Oh, natürlich, das … das hatte ich ganz vergessen. Danke«, stammelte ich und schlüpfte rasch zur Tür hinaus.
Draußen musste ich all meine Willenskraft aufbringen, um nicht einfach davonzurennen. Als ich das Tor zu unserem Haus erreichte, ließ ich mich dumpf zu Boden fallen, ich hatte keine Kraft mehr, um mich auf den Beinen zu halten. Völlig verschwitzt schob ich mir das feuchte Haar aus dem Gesicht. Ich umfing meinen Schädel mit beiden Händen und schloss die Augen, damit die Welt endlich aufhörte, sich zu drehen.
Irgendwann brachte ich wieder genug Kraft auf, um mit unsicheren Schritten ins Haus zu taumeln. Connor fing mich ab, sobald ich hereinkam.
»Haven! Komm, das solltest du dir mal ansehen«, rief er munter und bedeutete mir mit Gesten, ihm den Flur entlang zu folgen. Ich hoffte nur, dass ich nicht so mitgenommen aussah, wie ich mich fühlte. Ein Teil von mir fragte sich, ob ich ihm nicht besser erzählen sollte, was gerade passiert war, ob ich nicht vielleicht sogar die ganze Gruppe in Gefahr brachte, wenn ich es ihm
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