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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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Handknochen nach. »Nichts von dem habe ich so gemeint, Jasmin. Ich wusste nicht, was ich sagte. Du hast mich völlig durcheinandergebracht.«
    Er hatte mir danach ernsthaft aus dem Weg gehen wollen. Deshalb hatte er sich im Speisesaal aufgehalten, wo nach dem Essen die Zahl der Menschen überschaubar war. Doch Claudia Aldana, die Rektorin, hatte ihn entdeckt, die noch bei meinem Vater am Tisch saß, und ihn herbeigerufen. Er hatte sich eine Weile mit meinem Vater unterhalten und sich gefragt, wie es wohl wäre, meinen Vater zum Schwiegervater zu haben. Er hatte sich von ihm mit freundlicher Unbefangenheit und Respekt behandelt gefühlt. So als sei es nicht weiter verwunderlich, wenn ein Indio aus dem Cauca plane, eine Universität zu gründen.
    Um mir nicht im Tanzsaal, an der Bar oder im Tearoom über den Weg zu laufen, hatte er sich dann entschlossen, mit dem Chef der Catering-Firma zu klären, wie lange Don Antonios Mann schon in dessen Diensten stand und in welchen Häusern er bereits gewesen war, und hatte sich zur Küche begeben. Doch es war vertrackt: Dort stand ich schon wieder und fragte eine Kellnerin nach einer anderen – nämlich jener Manuela, die mir die Getränke aufs Kleid geschüttet hatte –, um zu verhindern, dass sie entlassen wurde.
    Das rührte ihn. Es erinnerte ihn ein bisschen an die deutsche Lehrerin, die seinem Onkel Tano zugesetzt hatte, damit er Clara in die Stadt auf ein richtiges Gymnasium schickte. Das Gute wollen, ohne die Verhältnisse zu kennen und zu wissen, wo man wirklich ansetzen musste, um Erfolg zu haben, das war so typisch für all die Fremden, die in sein Land kamen. Aber immerhin, es war anständig von mir, nobel! Es beruhigte ihn sogar ein wenig in dem ganzen Wirrwarr seiner Erregung und Verzweiflung, dass er sich in keine egoistische Luxustussi verguckt hatte, sondern in eine, die sich um eine Kellnerin Sorgen machte. Wenn es auch naiv war, was ich tat. Denn Manuela war längst nach Hause geschickt worden, und ich konnte ihr nicht mehr helfen, es sei denn, ich wäre ihr in die Stadtteile gefolgt, wo Weiße normalerweise Angst hatten.
    Plötzlich fiel ihm auf, wie jung ich war. Wenn ich in die elfte Klasse ging, war ich gerade mal sechzehn Jahre alt. Für eine Indígena wäre das alt genug gewesen, um zu heiraten und Kinder zu kriegen, aber europäische Mädchen genossen in diesem Alter noch das Privileg der Jugend, und man verzieh ihnen nicht nur die Fehler, die sie aus Unerfahrenheit begingen, man beschützte sie auch.
    Der Gedanke an meine Minderjährigkeit verflog allerdings, kaum hatte ich mich umgedreht und ihn erkannt, kaum sah er mein helles Gesicht, das schimmernde Maisblütenblond meiner Haare und meine zwei großen blauen Augen, die ihn erschrocken anblickten und im nächsten Moment schon aufleuchteten und strahlten. Ich fiel, als die Kellner vorbeirannten, gegen ihn, er spürte meine weiche Weiblichkeit an seiner Brust, atmete tief meinen Duft ein und war verloren.
    Nun gab es nur noch ein Ziel für ihn: mich in seinen Armen halten. So sehr war er in diesem Augenblick Mann, dass er nicht für sich hätte garantieren wollen, ob er, wenn ich willens gewesen wäre, noch hätte an sich halten können. Ein Glück, dass wir uns unter Massen von Menschen befanden. Mich vom Ball und aus dem Haus zu entführen, war unmöglich, es sei denn, er hätte sich dem ernsten Verdacht aussetzen wollen, es auf ein weißes Mädchen abgesehen zu haben, auf seine Unschuld oder das Geld seiner Eltern. So hatte er nur die Möglichkeit gesehen, mir im obersten Stockwerk des Bolívar-Hochhauses einen schöneren Ausblick auf die Stadt zu versprechen, in der vagen Hoffnung, wir würden dort alleine sein. Er war fast erleichtert gewesen, dass wir es nicht waren.
    Von einem Kuss hatte er sich nicht abhalten können, und es hatte ihn fast verrückt gemacht, mich so zu lieben und mir im nächsten Moment doch sagen zu müssen, wer er wirklich war und dass es für uns beide keine Zukunft gab. So war er wiederum erleichtert gewesen, sofern man das bei seinem Gefühlszustand überhaupt sagen konnte, als Elena mit ihrem und meinem Vater und John anrückte. Auch wenn es ihn schmerzte, mich mit ihnen ziehen zu lassen.
    »Du hast mich regelrecht fortgeschickt zu ihr!«, widersprach ich.
    Es war ihm nichts anderes übrig geblieben. Es wäre fatal gewesen, wenn man uns hinter der Stellwand der Cafeteria erwischt hätte. Außerdem hatte ich so gezappelt in seinen Armen, war so verlegen und unruhig

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