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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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vernichtet, sonst wäre er nie so weit gekommen. Das muss dir doch klar sein, Elena! So dumm kannst du doch nicht sein!«
    Tränen schossen ihr aus den Augen. Wortlos stand sie auf und lief aus der Kantine. Das Tablett hatte sie stehen lassen.
    Ich war erschrocken. Sollte ich ihr nachrennen? Die entscheidende Frage hatte ich Elena gar nicht gestellt, fiel mir plötzlich ein. Hatte sie John oder ihrem Vater erzählt, wo sich Clara aufhielt? Und hatte John es der Polizei weitererzählt? Elena wusste nur, dass Clara bei ihrer Großmutter wohnte. Aber wo die Großmutter wohnte, das herauszufinden war nicht schwierig, galt sie doch in den Kreisen, in denen Elenas Mutter genauso wie Mrs Melroy verkehrte, als Wunderheilerin. Aber vielleicht war das nicht einmal mehr die entscheidende Frage. Die Polizei hatte mit meinen Eltern gesprochen. Und zwar auch über unsere Reise Anfang der Ferien nach Yat Pacyte. Mein Vater hatte sicher erzählt, dass wir Clara mitgebracht hatten. Jetzt brauchte die Polizei nur bei der staatlichen Krankenversicherung nachzufragen, wo Clara sich aufhielt. Die Sozialdienstler hatten die genaue Adresse, sie waren ja dort gewesen. Und wenn das Militär sich Clara holte, dann war Damián erpressbar.
    Scheiße!
    Ich musste Clara warnen! Und Damián!
    Stopp! Machte ich mich damit nicht endgültig zur Komplizin? Und wenn die Polizei nichts von Clara wusste? Vielleicht sollte ich zunächst meinen Vater anrufen und ihn fragen, was er der Polizei genau erzählt hatte. Das hatte ich gestern Abend versäumt. Gestern Abend hatte ich mich meinen Eltern gegenüber genauso verhalten wie heute Elena gegenüber: Statt zuzuhören und so viel wie möglich zu erfahren, hatte ich herumgeschrien, mich und Damián ungerecht behandelt gefühlt und Vorwürfe verteilt.
    Der Lärm in der Mensa war tumultartig. Ich kam kaum zum Nachdenken. Und schon überfiel mich der nächste Schrecken. Wenn tatsächlich weder mein Vater noch Elena der Polizei irgendetwas über Damián, Clara und das Schwarze Wasser erzählt hatten, wenn es wirklich nur der Professor gewesen war, dann bedeutete es, dass die Polizei Susanne Schuster womöglich tatsächlich inzwischen wieder in der Gegend von Damiáns Heimat vermutete, weil sie mir unterstellte, ich hätte die allerneuesten Informationen über ihren Aufenthaltsort. Also war ich schuld, wenn jetzt Damián und seine Familie ins Visier von Militär und Polizei gerieten.
    Hilfe? Was musste ich tun? Ich rannte hinaus in die Grünanlagen und fragte mich immer wieder: Was soll ich nur tun? Was muss ich tun?
    Zu allem Unglück hatte ich auch noch Elena tödlich gekränkt. Ich war wütend auf mich gewesen und auf Damián, auf unsere ausweglose Situation und hatte eine Schuldige gesucht. Ich hatte ihr wehtun wollen und das war mies gewesen. Das Schlimme daran war, dass ich das, was ich gesagt hatte, nicht mehr zurücknehmen konnte. Ich hatte Elenas Vater als Mörder bezeichnet. Ohne einen einzigen Beweis. Ich hatte es getan, weil Damián es behauptet hatte. Ich hatte es ihm einfach nachgeplappert.
    Auf einmal steckte ich ganz tief drin in der Scheiße, die dieses verfluchte Land regierte. Krieg, Verbrechen, Feindseligkeit, Unversöhnlichkeit. Ich, Jasmin Auweiler aus Konstanz, sechzehn Jahre, war unversehens Teil des großen bösen Kriegs geworden. Womöglich hing es sogar von mir ab, ob Susanne Schuster befreit wurde, lebte oder starb, und ich hatte keine Ahnung, was ich tatsächlich tun musste, damit es für sie gut ausging, und für mich und für Damián und, nicht zu vergessen, für Clara und Juanita.
    Es war niemand da, den ich um Rat fragen konnte. Für meine Eltern wäre der Fall klar gewesen. »Du musst der Polizei alles erzählen, was du weißt. Das ist nicht unsere Sache, Jasmin.« Wenn es nach ihnen ging, musste ich Damián verraten. Er war der Böse, wir die Guten.
    Was hätte Felicity Melroy mir geraten? Tu, was dein Herz dir sagt. Die Liebe kennt kein Gut und Böse, sie kennt nur blinde Treue.
    Mir fiel das Handy schier aus der Hand vor Hektik. Aber es ging nur die Haushälterin dran. Mrs Melroy sei ein paar Tage außer Haus, verkündete sie. Mein Vater war ebenfalls nicht zu erreichen. Er operierte gerade.
    Also gut. Vielleicht war es ein Zeichen, dass ich zuerst einmal Elena suchen ging, um sie irgendwie um Entschuldigung zu bitten. Aber entweder ich suchte nicht gründlich genug, weil ich mich insgeheim vor der Szene fürchtete, oder sie war heimgegangen. Eine gute Idee! Ich hätte mich

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