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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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sowieso nicht mehr auf den Unterricht konzentrieren können.
    Ich täuschte Übelkeit vor, entschuldigte mich und setzte mich in den Bus.
    Vom Colegio Bogotano fuhr man über die große Autopista a Tunja auf die Wolkenkratzer von Santafé zu. In der blauen Ferne zackten sich die immensen Gipfel der Anden. Wieder einmal fiel mir die krasse Mischung aus Gelassenheit und Raserei, Eselskarren und Limousinen, Hütten und Hochhäusern auf, die Bogotá ausmachte. Die Straßen waren so breit, dass sie selten voll wirkten, obwohl ständig vom Verkehrskollaps die Rede war, die Sonne tauchte die Asphalt- und Steinlandschaft im Dunst der Stadt in ein gelbes Licht, auf den Fußwegen spiegelten Pfützen vom letzten Regen. Das alles war mir längst vertraut. Wie oft war ich mit dem Bus die Strecke gefahren und hatte mich gefragt, ob ich hier leben wollte. Das war, als ich noch dachte, wenn ich mich für dieses Land entscheiden würde, könnte ich Damián davon überzeugen, dass es mit uns beiden ging.
    Meine Mutter war nicht zu Hause. Estrellecita saß auf dem Sofa und telefonierte. Sie sprang auf und beendete hektisch das Gespräch, als ich eintrat.
    »Mama ist nicht zu Hause?«, fragte ich.
    Estrellecita schüttelte den Kopf.
    »Dann ist sie heute doch arbeiten gegangen?«
    Estrellecita nickte.
    Eigentlich hatte ich angenommen, dass meine Mutter sich heute wegen Migräne wieder mal eine Auszeit genommen hatte, nach der Szene gestern. Aber gut.
    Die Wohnung war wie üblich grabeskalt. Ich ging in mein Zimmer, zog die Schuluniform aus und Jeans, Shirt und Weste an und nahm die Regenjacke, ohne die man nie aus dem Haus ging. Immer noch steckte das Kondom in der Tasche. Gut, dass meine Mutter nicht dazu neigte, meine Jackentaschen zu durchwühlen. Ich sagte Estrellecita, dass ich zum Abendessen wieder da sein würde, und verließ das Haus. Ich machte mich auf den mir so unendlich vertrauten Weg nach Santa Ana.
    Als ich das blaue Tor zwischen den beiden mit Motiven aus Uyu oder Tierradentro bemalten Pfosten öffnete und auf dem schmalen Weg über die Bretter balancierte, die über die Pfützen und matschigsten Stellen gelegt waren, musste ich daran denken, mit welch bangen Gefühlen ich den Weg zum ersten Mal hinaufgegangen war, in diesem unheimlichen Spalier indianischer Magie, die mich an Giftpfeile und rituelle Tänze erinnert hatte.
    Juanita hockte auf dem Boden vor der Tür und zerstieß Kräuter in einem Mörser. Die Hühner scharrten in der Erde nach Würmern, die Ziege meckerte hinterm Haus. Der kleine Hund namens El Tonto, der Idiot, lag in der Sonne. Er bellte schon lange nicht mehr, wenn ich kam. Ganz so idiotisch konnte er also nicht sein. Es war alles wie immer, ruhig und friedlich. Clara war noch nicht da, sie kam erst abends aus der Schule.
    Die Alte lächelte.
    »Ich brauche deinen Rat, Juanita«, sagte ich.
    Sie musterte mich einen Moment. Dann nickte sie und stand auf. Dabei knickte sie wie immer über der linken Hüfte ein. »Komm!«
    Auf dem Holzofen stand ein Topf mit Canelazo, einem sirupsüßen Getränk aus Zuckerrohrwasser mit Anisschnaps, Zimt, Nelken und Orangenschalen. Juanita nahm zwei Steingutbecher, schnitt eine Zitrone auf, benetzte die Ränder der Becher mit Zitronensaft, tauchte sie in die Schale mit Rohrzucker und füllte das Getränk hinein. Allein die Zeremonie beruhigte. Der Becher wärmte meine Hände und das Gesöff meine Kehle und meinen Magen.
    Viele Stunden hatte ich in diesem Sommer, der keiner war, mit Clara an dem grob zusammengezimmerten Tisch verbracht. Aber jetzt erinnerte ich mich wieder an das erste Mal, als ich auf dem Schemel gesessen und mich kaum getraut hatte, aufzuschauen zu den Regalbrettern voller Kräuter, Dosen, Knochen, Wurzeln, Totems und Decken. Inzwischen war mir Juanitas Welt vertrauter. Ihr brauchte ich nichts vorzumachen. Sie schaute Menschen genau ins Gesicht und schloss aus kleinen Zeichen in der Mimik, Körperhaltung und Stimme auf das, was sie »böse Träume« nannte.
    Auch jetzt hatte ich wieder das Gefühl, dass ich ihr eigentlich gar nichts erzählen müsste. Aber ich tat es doch, einfach, weil ich es so gewohnt war, vielleicht auch, weil ich das Schweigen nicht ausgehalten hätte.
    »Die Polizei war bei meinen Eltern«, sagte ich. »Sie denkt, ich wüsste den Aufenthaltsort der deutschen Geisel Susanne Schuster. Ich muss heute oder morgen Abend mit meinem Vater hin und zu Protokoll geben, was ich weiß.«
    »Und was weißt du?«, erkundigte sich Juanita, ohne

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