Der Ruf des Kookaburra
einer Welt aus Düsternis, zu der niemand Zugang hatte als sie selbst.
Damals in Stuttgart lebte eine Tante von Emma, die Emma nie anders gesehen hatte als teilnahmslos in ihrem Sessel sitzend. Im Gesichtsausdruck dieser Tante stand dieselbe Hoffnungslosigkeit, die Emma nun bei ihrer Freundin wahrnahm. Hatte man sich damals bemüht, die Tante aufzuheitern, war man ebenso wenig zu ihr durchgedrungen wie Emma jetzt zu Purlimil. Und das bedeutete …
Emma senkte den Kopf und legte gequält die Hand über ihre Augen.
Ihre Freundin war der Schwermut verfallen.
8
E mma verbrachte eine unruhige, von Ängsten durchsetzte Nacht, in der sie nichts fand, was den Namen Schlaf verdient hätte.
Im ersten Morgengrauen stand sie auf und packte die schlafende Belle vorsichtig in ihre Trage. Noch bevor im Lager das Leben erwachte, war sie bereits auf dem Weg zu Mr Roberts.
Während sie mit dem Baby auf dem Rücken durch den feuchten, kühlen Regenwald lief, wurde ihr schmerzhaft bewusst, wie einsam sie sich fühlte. Carl war fort, ihre beste Freundin war gemütskrank. Alle anderen behandelten Emma wie ein rohes Ei, weil sie sich nicht mit Carls Verschwinden abfinden wollte … weshalb nun alle an ihrem Verstand zweifelten. Dass statt ihrer Purlimil krank geworden war, bemerkte hingegen niemand.
Wem konnte Emma sich anvertrauen? Wer würde sie verstehen, ohne dass sofort wieder die alte Litanei von Geistern, Strafe und unumstößlichen Gesetzen angestimmt würde? Wer würde ihren Sorgen mit Verständnis begegnen, wer würde ihr einen fundierten medizinischen Rat geben können?
Nur jemand, der in einer ähnlichen Welt aufgewachsen war wie sie. Jemand, der wie sie der Wissenschaft anhing statt dem Glauben an die Geister der Ahnen.
Jemand wie John Roberts.
Wenig später saß sie ihm im Haupthaus gegenüber. Die ersten Strahlen der Morgensonne fielen schräg durchs Fenster, Belle schlief auf dem Boden in ihrer Holztrage, und Emma trank die unvermeidliche Tasse Tee, die der Engländer ihr angeboten hatte.
Sie wusste nicht recht, wie sie anfangen sollte. Ihr war klar, dass ihr Besuch in aller Herrgottsfrühe ebenso unangemessen war wie ihre Bitte um Hilfe. Mr Roberts war als Kontrolleur gekommen, nicht als rettender Engel!
Trotzdem wollte sie, dass er genau das wäre.
Sie schluckte nervös.
»Mr Roberts«, hob sie an und knetete ihre Hände, »glauben Sie mir, wenn ich mir anders zu helfen gewusst hätte, dann hätte ich Sie nicht belästigt, aber …«
»Machen Sie sich keine Sorgen«, unterbrach der Engländer sie entspannt. Er nahm einen Schluck Tee, dann lächelte er sie über den Rand seiner Tasse hinweg an. »Ich frühstücke gerne mit Ihnen. Sogar lieber als allein.«
Emma senkte rasch den Blick.
»Im Ernst«, fuhr er locker fort. »Ein bisschen Gesellschaft tut jedem Menschen gut. Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie Sie sich fühlen müssen, Mrs Scheerer. Allein im Regenwald, unter lauter Wilden, in einer solch ungeklärten Situation! Und das als junge Frau … als sehr junge Frau. Wie alt sind Sie eigentlich?«
Empört sah sie ihn an. Seine Frage schickte sich nicht, und das musste Mr Roberts auch klar sein. Andererseits brauchte er ja bloß in seinen Unterlagen nachzusehen, wie alt sie war, wenn es ihn wirklich interessierte. Da konnte sie es ihm ebenso gut ins Gesicht sagen.
»Ich bin dreiundzwanzig.« Herausfordernd hob Emma das Kinn. »Und Sie?«
Er grinste und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Tja, da Sie ehrlich waren, muss ich es wohl auch sein. Fünfundzwanzig.«
»So jung?«, rutschte es ihr heraus. »Und schon Kontrolleur?«
»Kontrolleur! So sehen Sie mich also?«
Emma beschloss, ehrlich zu sein. »Nun ja. Schließlich sind Sie gekommen, um meine Arbeit unter die Lupe zu nehmen und gegebenenfalls in der Luft zu zerreißen.«
»Unter die Lupe nehmen: ja. In der Luft zerreißen: nein«, korrigierte er sie. »Vertrauen Sie mir, Mrs Scheerer, ich werde vollkommen sachlich darlegen, was ich von Ihrer Arbeit halte. Nicht mehr und nicht weniger.«
»Das klingt ja sehr beruhigend.« Emma konnte sich den ironischen Tonfall nicht verkneifen. »Ich soll Ihnen also vertrauen, dass Sie mir das Messer nur dann in die Brust stoßen werden, wenn Sie es für sachlich gerechtfertigt halten?«
»So ungefähr.« Mr Roberts musste lachen. »Sie wären eine gute Advokatin, wissen Sie das? Sie drehen einem das Wort im Munde herum.«
»Tja, vielleicht sollte ich es mit den Rechtswissenschaften versuchen,
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