Der Ruf des Kookaburra
die Nacht empfindlich kalt war, reagierte Purlimil nicht einmal, als ihr das Fell von den Schultern rutschte. Sie saß einfach nackt und ungeschützt da, bis Yileen ihr Zittern bemerkte und ihr das Fell wieder umhängte.
Konnte man diesen Zustand Leben nennen?
Je länger Emma ihre Freundin beobachtete, desto mehr war sie davon überzeugt, dass die Entscheidung der Ältesten richtig gewesen war. Wenn es auch nur die geringste Chance gab, dass die rituelle Wanderung Purlimil zu neuer Gesundheit und Lebensfreude verhelfen konnte, dann stand außer Frage, dass sie es versuchen mussten. Purlimil durfte nicht auf diese jämmerliche Weise zugrunde gehen! Nicht sie, die einst so eine lebenslustige Frau gewesen war.
Emma dachte daran, dass John schon bald zu den Conollys reiten würde, um dort gegen Entgelt alles unterzubringen, was nicht unbewacht zurückbleiben durfte: einen Teil seiner eigenen Kleidung, Emmas vollgepackte Reisetasche, Carls Koffer. Danach würde John in Ipswich seine Briefe und Berichte zur Post bringen und einige Einkäufe tätigen, und sobald er zurück sein würde, konnte es losgehen.
Wieder einmal dem Unbekannten entgegen , dachte Emma, und in ihrem Herzen verbanden sich Furcht, Abenteuerlust und Sehnsucht nach ihrem Mann zu einer absonderlichen Mischung.
Kurzentschlossen erhob sie sich, bevor der schwächere Teil ihres Selbst auf die Idee kommen konnte, zu weinen oder alles abzubrechen.
»Lasst uns schlafen gehen«, sagte sie und packte sich Belle und Gelar auf die Hüften. »Wir haben anstrengende Wochen vor uns, meine Süßen. Ruhen wir uns aus, solange wir das noch können!«
18
JULI 1860
O bwohl John nur wenige Tage fort war, fehlte er ihr. Emma mochte es sich kaum eingestehen, doch ohne ihn erlebte sie die Vorbereitungen der Schwarzen auf die rituelle Wanderung als bedrückend. Das nun fast leere Zelt schien ihr Unheil zu verkünden; die Winterkühle empfand sie als feindlich und ihre ungewisse Zukunft als beängstigend.
Auch die tägliche Arbeit ging ihr ohne John schwerer von der Hand. Sie arbeitete gewissenhaft an ihren Forschungen, doch sie bedauerte es in jeder Sekunde, nicht mit ihm über die neuesten Ergebnisse sprechen zu können. Emma half den Frauen, als Vorbereitung auf die Wanderung verschlungene Symbole auf Arme und Oberkörper zu malen – und sehnte sich danach, mit John über deren mögliche Bedeutung zu diskutieren. Sie schleppte Belle und Gelar durchs Lager – und vermisste die ganze Zeit über Johns Späße, mit denen er die Babys zum Lachen brachte.
Sie weigerte sich, darüber nachzudenken, warum das so war.
Als sie eines Morgens mit Belle vor ihrem Zelt saß und ein paar der kleinen Hemdchen flickte, hörte sie schwere Schritte und hob den Kopf. Endlich!, dachte sie aufatmend, als sie John mit einem großen Paket in den Armen auf sich zukommen sah.
Sie ließ das Hemdchen sinken und konnte nicht verhindern, dass sich ein strahlendes Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete. Das Dämmerlicht des Regenwaldes, das ihr eben noch matt und grau vorgekommen war, begann zu schimmern, und sie spürte, wie neue Zuversicht sie durchströmte.
»Meine liebe Emma! Ich hoffe, du hast mich vermisst?«, feixte John, und sie zog ironisch eine Augenbraue hoch, um zu verbergen, wie genau er ins Schwarze getroffen hatte.
»Aber dafür habe ich dir etwas mitgebracht.« Ächzend ließ er das Paket vor ihr und dem Baby auf den Boden poltern. »Na ja, eigentlich nicht dir, sondern Belle. Die junge Dame soll schließlich nicht ohne eine angemessene Ausstattung auf Reisen gehen, oder?«
Emma riss die Augen auf. »Du liebe Güte, John, hast du tatsächlich …«
Er nickte lächelnd, und sie öffnete mit fliegenden Fingern das Paket. Fassungslos schaute sie auf seinen wunderbaren Inhalt, holte das erste von vielen flauschigen, sahneweißen Kleidungsstücken heraus. Hemdchen, Röckchen, warme Jacken, eine Mütze, sogar winzige Schuhe waren dabei.
Die Schühchen an ihre Brust gepresst sah sie zu John hoch und fragte mit belegter Stimme: »Woher wusstest du, dass sie neue Kleidung braucht?«
John legte den Kopf schief. »Um das zu erkennen, braucht man nur ein funktionierendes Paar Augen. Belle ist so deutlich aus all ihren Kleidern herausgewachsen, dass ich auf keinen Fall mit leeren Händen aus Ipswich zurückkehren konnte. Ich hätte mich gefühlt wie der schlechteste Onkel der Welt.«
»Lo-lo-lo-lo-lo«, stimmte Belle sabbernd zu und griff nach Johns Schnürsenkel.
»John, das …
Weitere Kostenlose Bücher