Der Ruf des Kuckucks: Roman (German Edition)
verwaist sein würde, war trübselig; er hatte ihre Gegenwart als angenehm unaufgeregt und ihre Tüchtigkeit als erfrischend empfunden. Aber es wäre doch bestimmt erbärmlich, wenn nicht gar verschwenderisch, für Gesellschaft zu bezahlen, als wäre er irgendein reicher, kränkelnder viktorianischer Magnat? Ihre Zeitarbeitsagentur, Temporary Solutions, forderte eine räuberisch hohe Provision; Robin war ein Luxus, den er sich nicht leisten konnte. Die Tatsache, dass sie ihn nicht nach seinem Vater ausgefragt hatte (denn Strike hatte den Wikipedia-Eintrag auf ihrem Bildschirm sehr wohl bemerkt), hatte ihn noch mehr für sie eingenommen; das bewies ungewöhnliche Zurückhaltung und war eine Norm, nach der er neue Bekanntschaften oft beurteilte. Aber dies alles kam gegen die nüchterne Realität nicht an: Sie musste gehen.
Trotzdem empfand er ihr gegenüber ungefähr das, was er gegenüber der Ringelnatter empfunden hatte, die er als Elfjähriger in den Trevaylor Woods gefangen und derentwegen er Tante Joan so hartnäckig angebettelt hatte: »Bitte lass sie mich behalten … bitte …«
»Ich muss los«, sagte er, nachdem er ihren Stundenzettel abgezeichnet und sein Sandwichpapier und die leere Wasserflasche in den Abfallkorb unter ihrem Schreibtisch geworfen hatte. »Danke für alles, Robin. Und alles Gute bei der Jobsuche!«
Dann nahm er seinen Mantel vom Haken und ging durch die Glastür hinaus.
Oben an der Treppe, genau an der Stelle, wo er sie fast umgebracht und dann doch gerettet hatte, machte er halt. Sein Instinkt krallte an ihm wie ein aufdringlich bettelnder Hund.
Als hinter ihm die Glastür an die Wand krachte, drehte er sich um.
Robins Wangen waren rosig angehaucht.
»Hören Sie«, sagte sie, »wir könnten eine private Vereinbarung treffen. Wir könnten Temporary Solutions außen vor lassen, und Sie könnten mich direkt bezahlen.«
Er zögerte.
»Das mögen sie nicht, diese Zeitarbeitsfirmen. Die vermitteln Sie nie wieder.«
»Das spielt keine Rolle. Nächste Woche habe ich drei Vorstellungstermine für feste Stellen. Wenn Sie mir dafür freigeben würden …«
»Kein Problem«, sagte er, bevor er sich bremsen konnte.
»Dann könnte ich noch ein, zwei Wochen bleiben.«
Eine Pause. Die Vernunft lieferte sich ein kurzes, heftiges Gefecht mit Instinkt und Neigung und wurde überwältigt.
»Gut … in Ordnung. Also, versuchen Sie dann weiter, Freddie Bestigui zu erreichen?«
»Ja, natürlich«, sagte Robin, die ihren innerlichen Jubel mit ruhiger Effizienz tarnte.
»Schön, dann sehen wir uns am Montagnachmittag.«
Es war das erste Grinsen, mit dem er sie zu bedenken wagte. Obwohl er sich eigentlich über sich selbst hätte ärgern sollen, trat Strike nicht mit einem Gefühl des Bedauerns in den kühlen frühen Nachmittag hinaus, sondern empfand vielmehr seltsam erneuerten Optimismus.
6
Strike hatte einmal versucht, die Schulen zu zählen, die er in seiner Jugend besucht hatte, und war auf siebzehn gekommen, wobei er jedoch den Verdacht hegte, ein paar vergessen zu haben. Nicht mit eingerechnet hatte er die kurze Zeit, in der er angeblich Privatunterricht erhalten hatte: als er mit seiner Mutter und seiner Halbschwester in einem besetzten Haus in der Atlantic Road in Brixton wohnte. Der damalige Freund seiner Mutter, ein weißer Rastafari, der Musiker war und den Namen Shumba angenommen hatte, war der Überzeugung, das Schulsystem festige patriarchalische und materialistische Werte, denen seine außerehelichen Stiefkinder nicht ausgesetzt sein sollten. Die wichtigste Lektion, die Strike in diesen zwei Monaten Privatunterricht lernte, war die, dass Cannabis, selbst wenn es spirituell verabreicht wurde, den Konsumenten antriebslos und paranoid machen konnte.
Auf dem Weg zu dem Café, in dem er sich mit Derrick Wilson treffen wollte, machte er einen unnötigen kleinen Umweg durch Brixton Market. Der Fischgeruch unter den Arkaden; die bunten offenen Eingangsbereiche der Geschäfte, in denen sich fremdartige Obst- und Gemüsesorten aus Afrika und der Karibik türmten; die Halal-Fleischer und die Friseure, die ihre Schaufenster mit großformatigen Fotografien von kunstfertigen Zopf- und Lockenfrisuren und langen Reihen von Styroporköpfen mit Perücken dekoriert hatten – dies alles entführte Strike in die Zeit vor sechsundzwanzig Jahren, in der er mit seiner jüngeren Halbschwester Lucy durch die Straßen von Brixton gezogen war, während seine Mutter und Shumba in dem besetzten Haus auf
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