Der Ruf des Kulanjango
ins Tal, jetzt war nur eine fast senkrechte Rinne aus Schlamm und Geröll zu sehen.
»Der Hang des Todes«, grinste Rob, »der Pfad des Untergangs.« Er drückte die Knöpfe auf der winzigen Konsole seines Radcomputers. »Ich werde alles aufzeichnen«, sagte er, »Gefälle, Geschwindigkeit, Trittfrequenz … alles.«
Ich umklammerte die Lenkergriffe und das Blut pochte in meinen Ohren.
»Fertig?« Rob setzte sein wahnsinniges Grinsen auf.
Ich nickte.
Rob fummelte an der Kamera, die an seinem Helm fixiert war. »Ich folge dir. Pass bitte auf. Die Actioncam hab ich von meinem Dad stibitzt. Er weiß nicht, dass ich sie habe.«
Ich starrte in den Abgrund unter mir. Wenn alles gut ging, würde ich die Talsohle noch aufrecht erreichen und an der gegenüberliegenden Böschung wieder in die Höhe schießen.
»Okay«, sagte Rob. »Fünf …«
Warum tu ich das?
»Vier …«
Ich werde sterben.
»Drei …«
Ich kann nicht.
»Zwei …«
ICH KANN NICHT!
»Eins …«
Tu’s.
»Los …«
Der Boden versank unter meinen Füßen.
Ich flog … fiel. Abwärts, abwärts, abwärts. Lehn dich zurück, lehn dich zurück, schrie mein ganzes Inneres. Ich schlug mit dem Rad auf Grund, Sand und Steine spritzen von meinem Hinterrad, dort, wo es blockierte und sich in die tiefen Furchen grub. Als mein Vorderrad gegen einen Grashügel knallte, knirschte das Gestänge, ich schoss vornüber und flog durch die Luft. Ich donnerte auf den Boden und torkelte und überschlug mich wieder und wieder und immer wieder, in einem Knäuel aus Armen, Beinen und Rad. Ich rauschte in die Tiefe durch ein Meer aus Schlamm und Steinen und Heidekraut, immer und immer weiter purzelte ich die Rinne des Wasserfalls hinunter, bis zum zerfurchten Pfad in der Talsenke.
Kopfunter landete ich im Heidekrautgestrüpp und sah aus dem Augenwinkel Rob über die Böschung fliegen, mit einerperfekten halben Drehung in der Luft, bevor er auf der anderen Seite verschwand.
Erst war es still, dann gab es einen lauten Platscher.
»Pass doch verdammt noch mal auf, was du tust!«, ertönte Euans Stimme.
»Du warst im Weg!«, schrie Rob zurück.
Ich lag da und hörte sie streiten. Ich bewegte Arme und Beine. Es fühlte sich nicht so an, als wäre irgendetwas gebrochen. Es sah aber auch nicht so aus, als würden Rob und Euan vorbeikommen, um das herauszufinden. Ich humpelte am Ufer entlang. Rob und Euan lümmelten an einer seichten Stelle des Flusses.
Euan versetzte Robs Fahrrad einen Tritt. »Du hättest meine Angelrute zerbrechen können, du verdammter Idiot!«
Rob hob sein Bike auf, schleifte es zum Ufer und lachte. »Das war spitze, Callum! Ich hab alles gefilmt.«
»Und du hast die Fische verscheucht«, plärrte Euan. »Ich kann nichts fangen, wenn du hier alles durcheinanderbringst.«
»Bist du sicher, dass du die richtige Fliege hast?«, rief Rob und zog ein Stück Schokolade aus seiner Tasche.
Euan drehte sich um und starrte ihn zornig an. »Du musst es ja wissen«, fauchte er.
Ich zerrte mein Rad rüber zu Rob. »Rat mal, wie lange es noch dauert, bis er uns endlich erzählt, dass er der Fliegenfischerchampion ist«, grinste ich.
»Das hab ich gehört«, rief Euan. »Ich hab den Juniorcup der Fliegenfischer nicht umsonst gekriegt, kapiert!«
»Fang …«, brüllte Rob und warf Euan einen Riegel Schokolade zu. »Es könnte das Einzige sein, das du heute fängst.«
»Danke«, brummelte Euan. »Wart’s ab, Rob, Fliegenfischen ist eine hohe Kunst, nicht wie dein Computertechnokram. Wart’s nur ab.«
Ich setzte mich ins weiche Gras und rieb mir die zerschundenen Beine. Rob reichte mir ein Stück Schokolade und wir schauten uns den Film auf der Actioncam an. Ich dachte, ich wäre wenigstens auf einem kurzen Stück des Todeshanges Herr der Lage gewesen, aber alles, was ich sehen konnte, war ein einziges Gepurzel.
Rob lachte. »Das ist alles eine Frage des Willens. Du und dein Fahrrad, du bist dein Fahrrad.«
Ich sah mein Fahrrad an. Die tiefen Kratzer in der Lackierung und die Achter in den Rädern sprachen für sich. »Ich weiß, was du meinst«, stöhnte ich.
Die Sonne brannte, als wäre es ein Sommertag und nicht ein Tag im Mai. Der Rest der Frühlingsferien lag vor uns. Ich legte mich ins Gras, schloss die Augen und ließ die Schokolade langsam auf der Zunge zergehen.
Es war schon über einen Monat her, dass ich mit Iona am Heidekrauthang gesessen und die Rückkehr des Fischadlers beobachtet hatte. Danach hatte ich sie nicht mehr oft gesehen. Ich
Weitere Kostenlose Bücher