Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
Lachen auf ihren Gesichtern.
Runa schüttelte traurig den Kopf. Warum hörten die Menschen nicht auf Warnungen?
Die beiden Männer erstarrten, und schon im nächsten Augenblick war nichts mehr von ihnen zu sehen – bis auf zwei Häufchen Asche zu Runas Füßen.
Ein Raunen ging durch die Versammelten.
Ay’mut hingegen verzog keine Miene.
»Die beiden waren unbelehrbar und haben immer wieder für Probleme im Dorf gesorgt. Sie haben ihre verdiente Strafe bekommen.«
Dann nahm sie Runa bei der Hand und wandte sich einem der Langhäuser zu, vor dem ein stolzer junger Mann stand.
Die beiden Frauen gingen zu dem Mann, und Ay’mut stellte Runa vor.
»Te’culum, ich bringe dir Runa, von deren Ankunft mir im Traum berichtet wurde und über die ich am Morgen mit dir gesprochen habe.« Dann wandte sie sich an Runa. »Runa, dies ist Te’culum, Nachfolger unseres ehrwürdigen Anführers, der vor kurzem zu den Ahnen gerufen wurde. In seiner Obhut wird es dir an nichts fehlen.«
»Sei willkommen, Runa«, sagte Te’culum mit tiefer, wohlklingender Stimme. »Deine Ankunft ehrt uns.«
Runa war überrascht, dass sie seine Worte verstand. Te’culum beherrschte denselben Dialekt wie Ay’mut, wenn sie mit ihr sprach. Erleichtert musterte sie den jungen Mann. Weder durch seine Kleidung noch durch sein Haar unterschied er sich von den anderen Männern. Er war von mittlerer Größe und schlanker, aufrechter Gestalt. Runa hatte auf ihrer Reise viele Männer kennengelernt, und sie ließ sich niemals vom ersten Eindruck täuschen. Es waren seine Augen und seine Stimme, die ihr verrieten, dass er ein aufrichtiger, gerechter und trotz seines jungen Alters weiser Mann war.
»Ich habe eine Botschaft zu überbringen«, sagte sie mit fester Stimme und erhobenem Haupt. »Ich weiß nicht, was sie bedeutet, denn sie ist mir nicht in meiner Muttersprache übermittelt worden, sondern in einer Sprache, die mir fremd ist. Die Botschaft wurde mir in einem Traum offenbart, und es wurde mir auferlegt, sie dorthin zu bringen, wo sie verstanden wird. Ich habe eine lange, eine sehr lange Reise hinter mir. Ich habe mein Heimatdorf und meine Familie seit mehreren Sommern nicht gesehen. Jetzt hoffe ich, dass ich mein Ziel erreicht habe.«
»Sag uns deine Botschaft«, forderte Te’culum Runa auf, seine braunen Augen aufrichtig und fest auf sie gerichtet.
»Mahmele Leeyem.« So lauteten die Worte, die ihr vor scheinbar unendlich langer Zeit im Traum zugeflüstert worden waren.
Ay’mut und Te’culum starrten sie an.
Runa blickte verwirrt von einem zum anderen.
Dann fing Ay’mut an zu lachen, und auch auf Te’culums Gesicht erschien ein Lächeln.
»Du hast dein Ziel erreicht«, sagte Ay’mut erfreut.
»Ihr könnt die Worte verstehen?«, brach es aus Runa hervor. Wie erleichtert sie war! Wie lange hatte sie auf diesen Augenblick gewartet!
»Was bedeuten sie?«
Te’culum deutete auf eine Gruppe von Kindern, die unweit von ihnen unbefangen spielten und lachten.
»Das Lachen der Kinder«, sagte er in sanftem Ton. »Deine Botschaft bedeutet: Das Lachen der Kinder.«
Tränen traten in Runas Augen, als sie die spielenden Kinder erblickte, und ein befreiendes Lachen löste sich aus ihrer Kehle.
»Das Lachen der Kinder«, wiederholte sie bewegt. »Das ist wirklich die wichtigste – und die schönste – Sache auf der Welt!«
Ay’mut sah sie lange an.
»Da hast du recht«, sagte sie schließlich. »Ich will dir eine Geschichte erzählen. Es ist die Geschichte unseres Volkes …« Sie überlegte einen Augenblick lang. »Wir haben nicht immer hier gelebt. Vor vielen Generationen sind wir von weit her gekommen, aus dem tiefen Süden, um der Versklavung zu entgehen.« Ay’mut tauchte ganz in die alten Geschichten ihres Volkes ein. »Unsere Vorfahren flüchteten auf leichten hölzernen Flößen nach Norden. Sie brachten nicht nur ihre Familien mit, sondern auch ihre Nahrung, wie die Kartoffel, die wir heute noch anpflanzen, und, wie man an unseren schönen Plankenhäusern sehen kann, ihre ganz besondere Bauweise. Unser Volk ist damals der Versklavung entkommen. Heute müssen wir uns nur vor den Plünderern schützen, die immer wieder von der Küste aus den Fluss zu uns heraufkommen.«
Eine Gänsehaut lief Runa über den Rücken, als sie
an die Kanus mit den wild aussehenden Kriegern dachte.
Ay’mut wechselte schnell ein paar Worte mit Te’culum. Seine Augen weiteten sich vor Erstaunen. Runa ahnte, dass Ay’mut ihm von ihrem Kampf
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