Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
aufmerksam die Umgebung. Nur ihre Finger, die mit einer langen Haarsträhne spielten, verrieten ihre innere Anspannung.
»Kannst du irgendetwas erkennen?«, fragte sie flüsternd, um die lastende Stille zu unterbrechen.
»Nein«, erwiderte Chad leise. »Alles ist ruhig. Viel zu ruhig«, setzte er hinzu.
»Myra wird zurückkommen«, sagte Meghali mit einfühlsamer Stimme und warf Chad einen aufmunternden Blick zu.
»Das ist es ja gerade, was mir Sorgen bereitet«, antwortete er. »Ich spüre deutlich, dass Morris irgendwo in der Nähe ist, ich kann nur nicht herausfinden, wo. Wenn ich ihn bloß in die Finger kriegen könnte, dann wäre Myra sicher …« Seine Stimme verriet seine Wut.
»Wir können nur abwarten«, meinte Meghali besänftigend.
Wieder legte sich Schweigen über das Lager.
Chad versuchte, ihre Lage einzuschätzen. In der Stadt konnte man die Illusion hegen, dass die Polizei einem helfen würde, wenn man in Not war. In der Wildnis jedoch blieb einem nichts anderes übrig, als sich der rauen Wirklichkeit zu stellen: Man war auf sich allein gestellt – immer. Und so war es auch jetzt.
Chad betrachtete die nähere Umgebung. Es gab viele Erhebungen und Senken. Große Zedern und Fichten wuchsen dicht beieinander, und Felsbrocken und dichtes Unterholz überwucherten den Boden und machten es beinahe unmöglich, schnell voranzukommen oder sich in der weiteren Umgebung zu orientieren. Niemand konnte weiter sehen als ein paar Schritte. Ein Bär konnte hinter dem nächsten Baum stehen, und man würde es nicht bemerken, weil das Unterholz zu dicht war. Man wusste nicht einmal, wo genau man selbst sich befand. Dazu müsste man ein Adler sein und hoch über die Bäume hinweggleiten – oder aber die Gegend so gut kennen, wie Chad es tat. Morris war zwar ein findiger Gegner, aber er kannte sich in der Wildnis nicht aus. Das bedeutete, dass es durchaus denkbar war, dass Morris sie erst viel später oder vielleicht sogar überhaupt nicht finden würde – auch wenn er ihrem Lager sehr nahe war.
Dann schweiften Chads Gedanken zu Myra. Er hatte sie erst vor kurzem kennengelernt und durch ihre Reisen in die Geisterwelt viel weniger Zeit mit ihr verbracht als die vierzehn Tage, die seit ihrem ersten Treffen verstrichen waren. Er konnte sich nicht erklären, woher die starken Gefühle kamen, die er für sie empfand. Er wusste nur eines, dass er sein Leben für sie hingeben würde. Ja, er war bereit zu sterben, um Myra zu retten. Das wurde ihm in diesem Augenblick bewusst.
Plötzlich knackte es leise im Unterholz. Sofort griff Chad nach seinem Revolver, der neben ihm auf dem Boden lag.
»Meghali, Heather. Jemand kommt!«
»Myra …«, begann Meghali, aber Chad schüttelte den Kopf und bedeutete ihr, leise zu sein.
Heather erwachte und setzte sich auf.
Wieder knackte es leise.
»Versteckt euch«, flüsterte Chad den Frauen zu. »Ich werde versuchen, ihn zu überrumpeln.« Lautlos verschwand er im dichten Unterholz.
Auch Meghali und Heather verloren keine Zeit. Leise und vorsichtig krochen sie zwischen die schroffen Felsbrocken, die das Lager umgaben, und kauerten sich auf den Boden. Nichts geschah. Die Minuten schienen sich endlos hinzuziehen. Eine unheimliche Stille hatte sich über die Wildnis und das kleine Lager gelegt.
Plötzlich spürte Meghali, wie ein harter Gegenstand sich in ihren Rücken bohrte. Ihr Atem stockte. Morris!
»Hier drüben, Chad!«, schrie sie, um ihn zu warnen.
Morris stieß ein Knurren aus und schlug ihr hart gegen den Kopf. Meghali sackte zu Boden.
»Halt den Mund!«, zischte Morris. Er zog sie brutal auf die Beine und presste ihr wieder seine Pistole in den Rücken. Dann hielt er ihr eine dünne Schnur hin.
»Fessle die Alte.«
Meghalis Herz raste. Wo blieb Chad nur?
Mit zitternden Händen tat sie, was Morris von ihr verlangte.
»Schneller!«, rief Morris ungeduldig.
Kaum hatte Meghali Heathers Hände zusammengebunden, gab es ein leises Knacken im Unterholz, und Morris fuhr herum. Über ihm, auf einem der Felsen, stand Chad, sprungbereit, den Revolver in der Hand.
Blitzschnell zog Morris Meghali schützend vor sich und presste ihr den Lauf seiner Pistole an die Schläfe.
»Keine Faxen, Blue Knife!«, schrie er zu Chad hinauf. »Lass den Revolver fallen!«
Chad zögerte.
»Sofort!«, schrie Morris.
Chad gehorchte widerwillig.
»Komm runter, aber langsam.«
Chad ließ sich von dem Felsen gleiten.
»Fessle ihn!«, knurrte Morris und stieß Meghali von sich. Die
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