Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
gegen die angreifenden Krieger berichtete.
»Wir sind dir zu großem Dank verpflichtet«, sagte Te’culum zu Runa. »Die Krieger, die uns dank deiner mutigen Tat nicht überfallen konnten, gehören zu einem Stamm, der an der Küste lebt. Sie kommen oft den Fluss herauf und plündern die nahe am Ufer gelegenen Dörfer. Sie rauben Vorräte, stehlen Frauen und Kinder und setzen die Dörfer in Brand.« Ein Schatten fiel über sein edles Gesicht.
»Lass mich bei euch bleiben, und euer Dorf wird für lange Zeit von Raubzügen verschont bleiben«, bat Runa mit fester Stimme. Entschlossen sah sie Te’culum an.
Das Lächeln, das er ihr daraufhin schenkte, ließ einen heißen Schauer über ihren Rücken laufen. Röte stieg ihr ins Gesicht. Und es verriet ihr, dass der junge Mann sie auch ohne ihr Angebot aufgefordert hätte zu bleiben.
»Es wäre uns eine Ehre, wenn du bei uns bleiben würdest«, sagte er. »Und bei mir.«
Eine behagliche Flut aus Wärme, Liebe und Dankbarkeit überkam Runa. Sie sah verlegen zu Boden und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Ohne Runas Einsatz würden unsere Kinder jetzt nicht mehr lachen«, betonte Ay’mut mit fester Stimme. »Aber was geschieht mit unseren Kindeskindern? Im Traum habe ich die ferne Zukunft derer gesehen, die nach uns kommen werden. Überall herrschen Unglück und Versklavung. Und das Unglück ist noch viel größer, weil die Menschen ihre Versklavung nicht spüren. Das Lachen der Kinder ist verstummt. Denn wo Versklavung regiert, gibt es keinen Platz mehr für unbeschwertes Kinderlachen …«
Einige Stammesmitglieder waren stehen geblieben und hatten den Worten ihrer Medizinfrau gelauscht. Ein Raunen ging durch die Menge.
Ay’mut wandte sich direkt an die Umstehenden.
»Einige von euch mögen das Lachen der Kinder nicht als das Wichtigste empfinden. Das sind die, die wir die Namenlosen nennen. Diejenigen, die keinen Namen verdienen, weil sie keine Opfer erbringen, weil sie sich nicht um andere kümmern – nur um sich selbst. Deshalb haben sie keine eigenen Kinder, ihre Selbstbezogenheit lässt das nicht zu.« Sie sah einen nach dem anderen forschend an. »Kinder zu haben kostet viel Kraft und bringt viel Arbeit mit sich. Es erfordert Opferbereitschaft. Ist man dazu nicht bereit, zieht man keine Kinder groß, dann wird auch niemand da sein, um die Kindeskinder großzuziehen – die Menschheit wird bald aussterben.« Sie suchte nach den richtigen Worten. »Versteht doch! Das Lachen der Kinder ist der wichtigste Besitz der Menschen. Geht es verloren, so geht jegliches Leben verloren. Ist das Lachen der Kinder verstummt und vergessen, dann beherrschen Eigennutz und Krankheit unser Volk.« Ay’mut warf einen warnenden Blick in die Runde. »Erinnert euch an meine Worte. Erzählt euren Kindern und Kindeskindern von der beschwerlichen Reise, die Runa auf sich genommen hat, weil sie ihr durch einen Traum von den Geistwesen auferlegt wurde, und erinnert euch immer an die Botschaft, die sie euch heute überbracht hat. Möge ihre Geschichte euren Kindeskindern helfen, das Grauen zu besiegen, das ich in meinem Traum gesehen habe.«
Tief berührt von Ay’muts Worten, schloss Runa die Augen.
K APITEL 29
Gefunden
C had, Heather und Meghali warteten schon seit sechs Stunden in ihrem provisorischen Lager auf Myras Rückkehr. Es war jetzt früher Nachmittag. Die Sonne stand hoch am Himmel, aber unter den hohen dicht wachsenden Zedern und Fichten war es kühl. Es fiel den dreien sehr schwer, einfach nur dazusitzen und zu warten, erst recht, weil Morris in der Nähe war.
Chad streckte seine müden Glieder. Er hatte die Umgebung sorgfältig beobachtet, seit Morris am Morgen unterhalb ihres Verstecks aufgetaucht war. Vergebens. Wie schon zuvor am abgestürzten Wagen, als es Chad gelungen war, Morris’ Begleiter auszuschalten, war Morris selbst auch jetzt wieder spurlos verschwunden. Dennoch hatte Chad das untrügliche Gefühl, dass Morris noch immer in ihrer Nähe war.
Chad wollte nicht wagen, die Frauen allein zu lassen, schon gar nicht Myra, wann immer sie zurückkehrte. Zu schlafen wagte er auch nicht. Deshalb saß er auf der Erde, den Rücken gegen einen großen Felsbrocken gelehnt, und wartete schweigend.
Heather hatte ihren müden Körper auf den duftenden Waldboden gebettet und schlief ein wenig, eine Jacke als Kissenersatz unter dem Kopf.
Meghali war wach. In ihrer würdevollen Art saß sie neben Chad. Auch sie schwieg. Ihre dunklen Augen beobachteten
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