Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
auch zu den Ahnen. Sie haben dich auserwählt, sie wollen dich leiten, dir Dinge zeigen, damit du anderen helfen kannst. Sie werden dir helfen, die Säulen zu finden. Sie wollen, dass du bestimmte Dinge siehst und erfährst. Warte ab, und du wirst sehen, dass die Säulen zu dir kommen. Und mit der Zeit wirst du sie nicht mehr brauchen …«
Alle schwiegen, tief in Gedanken versunken. Allmählich wurde Chad schläfrig. Er wusste, dass sie noch mindestens eineinhalb Stunden fahren mussten, denn die Jagdhütte lag sehr abgelegen in den Bergen, versteckt zwischen hohen Zedern. Also wandte er sich an Meghali, um ein Gespräch zu beginnen und sich selbst wach zu halten.
»Du hast bisher nicht viel gesagt. Willst du uns nicht erzählen, warum du vorhin bei dem Namen Morris hellhörig geworden bist und warum du zu Myra in der Zukunft gesagt hast, dass du uns weiterhelfen kannst?«
»Über den zweiten Teil deiner Frage habe ich schon die ganze Zeit nachgedacht«, antwortete Meghali in ihrer sanften Art. »Und ich bin zu keinem Ergebnis gekommen. Aber ich erzähle euch gern, was ich über Morris weiß: Vor einigen Wochen hat mich ein Mann wegen eines Jobangebots angesprochen. Er hat gesagt, er will ein Buch über indianische Mythen und Legenden schreiben, und er würde wegen des großen Umfangs der Nachforschungen gern meine Hilfe als Ethnologin in Anspruch nehmen.«
Myra und Chad blickten erstaunt auf. Diese Geschichte hatten sie doch schon einmal gehört!
»Der Mann hat sich mir als Simon Morris vorgestellt. Er wollte, dass ich mich mit den von ihm gesammelten Geschichten und Materialien aus ethnologischer Sicht auseinandersetze und sie auf ihre Richtigkeit hin überprüfe.« Meghali sah in die zweifelnden Gesichter von Chad, Myra und Heather.
»Ich weiß natürlich, dass ein Außenstehender eine solche Prüfung nicht wirklich vornehmen kann. Es gibt so viele alte überlieferte Geschichten … Das weiß ich aus meiner eigenen Kultur. Auf jeden Fall hatte ich zu der Zeit gerade keinen Job, und so entschloss ich mich, es zu versuchen.«
Myra atmete tief durch.
»Du arbeitest für Morris?«
»Ja, aber ich habe schnell herausgefunden, dass mit ihm etwas nicht stimmt, dass er nicht wirklich an einem Buch arbeitet, sondern hinter etwas ganz Bestimmtem her ist. Auch habe ich mitbekommen, dass er nicht aus eigenem Antrieb arbeitet. Irgendwer hat ihn beauftragt. Er telefoniert oft, und wenn das Telefon klingelt, dann darf niemand außer ihm drangehen.«
»Hat Morris dich zu Heather geschickt?«, wollte Chad wissen.
»Nein, das war meine eigene Idee. Morris weiß nichts davon. Mir ist aufgefallen, dass einige Informationen, die er mir über eine bestimmte Legende zur Verfügung gestellt hat, nicht schlüssig sind. Es handelt sich, wie ihr euch sicher vorstellen könnt, um die Legende vom Lachen der Kinder. Er weiß so viele Einzelheiten darüber, dass ich mir sicher gewesen bin, dass er schon mit Heather – die er als Quelle für die Legende angegeben hat – gesprochen hat. Aber er hat das verneint. Sein ganzes Benehmen hat mich schließlich so misstrauisch gemacht, dass ich mich auf eigene Faust mit Heather in Verbindung gesetzt habe, und so ist unser heutiges Treffen zustande gekommen. Leider ist nichts aus unserem Gespräch geworden, da ihr angerufen habt. Nachdem ich euren Bericht gehört habe, wird mir jedoch so manches klar.«
»Und dies alles kommt dir nicht seltsam oder unglaubwürdig vor?«, warf Myra erstaunt ein.
Meghali schüttelte lachend den Kopf.
»In Indien, wo ich aufgewachsen bin, gibt es eine Menge Dinge, die den Weißen unglaubwürdig vorkommen. In unserer Kultur gehören die alten Geschichten zum täglichen Leben. Und so merkwürdig sie auch klingen mögen, ich glaube fest daran, dass die Wurzeln dieser Geschichten wahr sind … Genau wie wir das jetzt von eurer Legende vom Lachen der Kinder wissen.«
Heather lächelte.
»Deshalb bist du wahrscheinlich die richtige Person, um uns zu helfen. Du siehst die Dinge aus einem anderen Blickwinkel, bist aber gleichzeitig so eng mit den Wurzeln deiner eigenen Kultur verbunden, dass du fest an die Existenz von Geistwesen glaubst. Wir werden sehen …«
Bald hatten sie die kleine Jagdhütte der Familie Blue Knife erreicht und richteten sich ein. Dann aßen sie ein wenig. Myra war froh, dass sie so viele Decken und Lebensmittel mitgebracht hatten, denn sie waren ja nun zu viert und nicht, wie geplant, nur zu dritt.
Chad reparierte ein Regal in der
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