Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
waren und dass sie zu ihrem Anführer gebracht werden wollten. Vergeblich!
Was sollten sie tun? Sie mussten unbedingt Ruhe bewahren. Wieder und wieder machte Runa die Zeichen für Botschafter und Anführer, doch es half nichts.
Einer der Männer zog sie unsanft auf die Beine und wollte mit ihr in der Dunkelheit verschwinden, doch in diesem Augenblick kam ein dritter Mann hinzu. Er blickte zu den beiden Frauen und bemerkte Runas Handzeichen. Mißmutig rief er den anderen Männern etwas zu, und diese schoben die beiden Frauen mit enttäuschtem Gesicht zurück zum Lagerplatz.
Um sie herum herrschte noch immer ein wildes Durcheinander. Schreie hallten zwischen den Zelten wider. Es waren die Hilfeschreie der freundlichen Lagerbewohner – Männer, Frauen und Kinder –, mit denen Runa und Erdis noch vor kurzem zusammengesessen hatten.
Runa griff nach Erdis’ Hand. In diesem Augenblick wurden die beiden Frauen wieder von zwei Männern gepackt.
Erdis schrie leise auf.
Die Männer hievten sie auf den Rücken seltsam aussehender Tiere. Runa und Erdis konnten ihre Gestalt im schwachen Schein der Feuer nur undeutlich erkennen. Die Tiere erinnerten an urzeitliche Pferde. Sie waren klein und struppig und wirkten sehr robust. Die Tiere trugen weder Sattel noch Zaumzeug und wurden von anderen Reitern an Stricken geführt. Weder Runa noch Erdis hatten jemals zuvor auf einem solchen Tier gesessen, und sie hatten Mühe, nicht hinunterzufallen, als die kleine Karawane der Angreifer sich in Bewegung setzte.
Die Schreie und Hilferufe der Bewohner wurden allmählich immer leiser. Runa schloss die Augen. Warum war sie nur so hilflos? Sie war gezwungen, den Fremden zu folgen, während das Lager und all seine Bewohner den Feinden auf Gedeih und Verderb ausgeliefert waren.
Der Ritt dauerte endlos lang. Die Frauen konnten in der Dunkelheit nicht erkennen, wohin der Weg sie führte, und sie verloren die Hoffnung, jemals wieder in das gastfreundliche Lager zurückzukehren oder gar Timaq zu finden.
Als die Morgendämmerung die Landschaft endlich in ein fahles graues Licht tauchte, erreichten sie das Lager der Angreifer. Runa und Erdis konnten erkennen, dass sich die Kleidung der Männer und das Lager selbst kaum von dem Lager und den Menschen unterschieden, von denen sie am Tag zuvor als Gäste aufgenommen worden waren. Die Zelte aus Häuten und Stangen sahen aus wie Jurten. Die Männer, die sie nun unsanft von den kleinen Pferden zogen und in eines der Zelte schoben, trugen, wie die Männer in dem anderen Lager, eine lange Tunika aus Leder und Fell, an den Seiten geschlitzt, die Ärmel eng um die Handgelenke geschlossen. Um diese Tunika hatten sie einen Gürtel geschlungen. Dazu trugen sie eine lange, weite Hose, die in einfache knöchelhohe Lederstiefel gesteckt war, und entweder einen hohen Hut aus Fell oder eine Kappe aus Filz. Die Männer sahen grimmig und rau aus, und die beiden Frauen waren heilfroh, als eine Klappe über dem Eingang zugezogen wurde und sie allein im Dunkel des Zeltes waren.
»Geht es dir gut?«, fragte Erdis.
»Ja.«
»Die Situation ist gefährlich, Runa. Du musst versuchen, hier herauszukommen. Diese Männer haben keine friedlichen Absichten, und deine Aufgabe ist zu wichtig.«
»Erdis, ich weiß nicht, was ich tun soll!«
»Du hast Ragns Fähigkeit. Du kannst dich verwandeln und von hier verschwinden«, meinte Erdis ruhig.
»Und dich zurücklassen? Niemals!«
Erdis überlegte. »Erinnere dich an Halvars Gabe. Du kannst Dinge mit deinem Willen verändern. Benutze diese Gabe, um die Absichten der Männer zu unserem Vorteil zu ändern.« Sie legte Runa beruhigend die Hand auf die Schulter.
»Was immer du tust, die Fremden dürfen den Talisman nicht in ihre Hände bekommen. Bisher ahnen sie nicht, dass es ihn gibt. Lass uns versuchen, dass das so bleibt.«
Runa stimmte zu, und die beiden Frauen beschlossen, ein wenig zu schlafen. Ihr Körper schmerzte nach dem ungewohnten Ritt, und außerdem waren sie sehr durstig. Schlaf würde sie für eine Weile alles vergessen lassen.
Irgendwann wurde die Klappe des Zeltes wieder geöffnet, und zwei raue dunkelhaarige Männer zogen die beiden Frauen unsanft nach draußen ins Tageslicht.
Es war so grell, dass Runa und Erdis blinzeln mussten. Schützend schirmten sie ihre Augen ab. Die Morgenluft war kühl und ließ sie frösteln.
Als sich ihre Augen an das Tageslicht gewöhnt hatten, bemerkten sie, dass die Landschaft sich verändert hatte. Das Lager, in das sie
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