Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
zu ihren Familien. Anschließend ging er mit grimmiger Miene zu dem Gefangenen hinüber und stieß ihm, ohne ein Wort zu verlieren, sein Messer ins Herz.
Runa und Erdis zuckten zusammen. Als Nächstes, das spürten sie, würde über ihr eigenes Schicksal entschieden werden.
Der Anführer hielt dem anderen Mann das Messer hin. Dieser nahm es, wischte das Blut an seinem Umhang ab und gab dem Anführer die nun wieder blitzende Waffe zurück. Der warf einen kurzen Blick auf Runa und Erdis und rief irgendwelche Anweisungen.
Die Frauen hielten den Atem an. Was würde mit ihnen geschehen?
Kurz darauf erschien eine alte Frau, geführt von einem jungen Mädchen. Der Anführer begrüßte sie höflich und wechselte einige Worte mit ihr. Die alte Frau nickte. Dann wandten sich beide an Runa und Erdis.
Zu ihrer großen Überraschung verbeugte sich der Anführer nun vor ihnen und sprach sie höflich an.
Runa bedeutete ihm, dass sie nichts verstand, erwiderte seinen Gruß jedoch respektvoll in ihrer eigenen Sprache.
An dieser Stelle ergriff die alte Frau das Wort, und Runa erkannte, warum der Anführer sie hatte holen lassen: Sie war seine Übersetzerin.
»Mein Name ist Xansu Shi«, übersetzte die Alte die Worte des Anführers. »Ihr braucht keine Angst zu haben. Solange ihr in diesem Dorf seid, wird euch nichts geschehen. Ich hatte einen Traum, der mir eure Ankunft angekündigt hat. Meine Männer werden euch geleiten, wohin ihr wünscht. Aber vorher möchte ich euch eine Mahlzeit und eine Rast anbieten. Seid willkommen in meinem Zelt.«
Xansu Shi lächelte.
Runa war erstaunt, dass dieser Mann, der offensichtlich kein Schamane, sondern Anführer der Krieger war, einen Traum über ihre Ankunft gehabt hatte. Doch dann besann sie sich, dass die Geistwesen am besten wussten, wen die beiden Frauen brauchten, um ihr Ziel sicher zu erreichen.
Xansu Shi fuhr fort, und die Alte übersetzte. »Ich habe meine Männer ausgeschickt, um Ausschau nach euch zu halten. Sie haben mich nicht enttäuscht. Sie haben euch sicher zu mir gebracht.«
»Wir danken dir«, erwiderte Runa höflich.
Xansu Shi machte eine abwehrende Handbewegung. »Das war selbstverständlich. Doch nun kommt, mein Hauptmann wird euch zu einem Zelt geleiten, wo ihr euch eine Weile ausruhen könnt. Ich werde euch holen lassen, sobald das Essen fertig ist. Ihr werdet Gäste in meinem Zelt sein.«
Das Zelt, in das Runa und Erdis geführt wurden, war aus Fellen gefertigt und einfach eingerichtet.
»Sieh dir diese Schlaflager an!«, rief Runa überrascht aus. Sie befanden sich nicht direkt auf dem Boden, sondern auf niedrigen hölzernen Gestellen, so dass die Lager selbst sich etwa zwei Handbreit über den Boden erhoben. Weder Runa noch Erdis hatten so etwas je zuvor gesehen. Vorsichtig probierten die beiden Frauen die Lager aus.
»Sie sind sehr bequem«, stellte Erdis fest, nachdem sie sich ausgestreckt hatte.
Schlaf fanden sie nicht, aber ihre Körper sehnten sich nach ein wenig Ruhe.
Am frühen Nachmittag drangen wunderbare Gerüche in das Zelt und machten Runa und Erdis den Mund wässrig. Seit ihrem Aufbruch aus dem Heimatdorf war es nicht oft geschehen, dass Runa und Erdis mitten am Tag eine warme Mahlzeit angeboten bekamen.
Schon bald holte ein junges Mädchen die beiden Frauen und führte sie zum Zelt von Xansu Shi. Auf dem Weg dorthin fiel Runas Blick auf mehrere kleine Stücke Land, wo die Dorfbewohner bestimmte Pflanzen anzubauen schienen. Und bei einem der Zelte waren die Wände hochgerollt. Dort arbeitete ein kräftiger Mann über einer Feuerstelle. Immer wieder ertönte ein kurzes helles Klirren. Runa hatte auf ihrer Reise gelernt, dass dies der Klang von Metall war. Sie zuckte zusammen. Sie mochte diesen Klang nicht. Für sie bedeutete er das Ende der alten Sitten, mit denen sie sich so eng verbunden fühlte, und den Beginn von etwas Neuem, von dem niemand wusste, was es bringen würde.
Als sie ihr Ziel erreichten, wechselten Runa und Erdis einen wissenden Blick. Das Zelt des Anführers unterschied sich weder in Größe noch im Aussehen von denen der anderen Bewohner, was in ihren Augen auf einen weisen Mann hindeutete.
Im Inneren seines Zeltes wartete der Anführer schon auf sie. Er saß im Schneidersitz auf einem Fell, eine Frau von ungewöhnlicher Schönheit war an seiner Seite. Die Frau stammte zweifellos aus einer anderen Gegend, so sehr unterschied sie sich im Aussehen von den anderen Dorfbewohnern.
Runas Neugier war geweckt. Die Unbekannte
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