Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
nicht, was geschehen war?
Xansu Shi lag noch immer reglos am Boden.
Erdis beugte sich zu ihm hinunter, um ihn zu untersuchen. Dann warf sie Runa einen sorgenvollen Blick zu.
Auch Runa beugte sich zu Xansu Shi hinunter.
»Er ist tot!«, rief sie Tego entsetzt zu.
Tego war aufrecht stehen geblieben. Sie lächelte noch immer.
»Er ist nicht tot«, erwiderte sie ruhig.
»Aber …«
»Warte eine Weile.«
Runa und Erdis erhoben sich wieder und warteten schweigend.
Arme Tego! Sie tat Runa leid.
Sie warteten und warteten. Die Nacht legte sich über das Dorf, und nur noch die lodernden Lagerfeuer warfen ihr flackerndes Licht auf das Dorf.
Runa, Erdis und Tego blickten noch immer auf Xansu Shi. Er rührte sich nicht. Wie sollte er auch, dachte Runa. Er ist ja tot!
Plötzlich begann sein Körper zu zucken. Runa sah es ganz deutlich. Und ehe sie sichs versah, stand Xansu Shi wieder lebendig vor ihr, als sei nichts geschehen, und lächelte die Frauen spitzbübisch an.
Runa und Erdis wichen zurück. Etwas Unheimliches ging hier vor sich!
»Er ist Herr über den Tod!«, flüsterte Runa ehrfürchtig.
»Er ist Herr über seinen Atem«, sagte Tego ungerührt, und ein Lächeln umspielte ihre vollen, schön geschwungenen Lippen. »Neben seiner ausgezeichneten Kampfkunst ist es seine größte Gabe.«
»Und es kommt manchmal sehr gelegen«, fügte Xansu Shi hinzu, während er den Staub von seiner roten Jacke klopfte.
»Aber wie ist das möglich?«, wollte Runa erstaunt wissen.
»Ist es ein Kraut, das du zu dir nimmst?«, fragte Erdis.
Xansu Shi lachte herzhaft auf, wurde jedoch sofort wieder ernst.
»Ich habe meinen ganzen Körper unter Kontrolle«, erklärte er. »Ich kann so, wie ihr mich gesehen habt, ohne zu atmen, so lange daliegen, wie es vonnöten ist.« Dann sah er Runa direkt an.
»Reich mir den Talisman, den du bei dir trägst.«
Runa zögerte keinen Augenblick. Sie hatte den Talisman Xansu Shi gegenüber nicht erwähnt, aber es wunderte sie nicht, dass er davon wusste. Nichts an diesem Mann wunderte sie.
Xansu Shi hielt den Talisman einen Augenblick lang in seinen Händen, dann machte er mit dem Finger mehrere unsichtbare Zeichen darüber und reichte ihn Runa zurück.
»Es ist nicht wichtig für dich, zu wissen, wie ich es anstelle«, erklärte er und legte seine Hand auf ihren Arm. »Dir reicht die Gewissheit, dass meine Fähigkeiten nun auch dir gehören. Pass auf dich und Erdis auf und wende deine Gaben weise an.«
Runa senkte dankbar den Kopf. Es war eine große Ehre, wenn ein solch mächtiger Schamane – und Xansu Shi war in ihren Augen nicht weniger als das – sein Wissen und Können mit jemand anderem teilte. Sie hatte nichts, was sie ihm dafür hätte geben können, außer dass sie tat, wozu er sie ermahnte: die erhaltenen Gaben weise zu nutzen. Aber Xansu Shi hätte ohnehin niemals einen Gegenwert verlangt. Er folgte dem Willen der Geistwesen. Sie hatten ihm klare Anweisungen gegeben, und er hatte sich ihres Vertrauens würdig gezeigt.
Am nächsten Morgen, bevor das Dorf erwachte, brachen Runa und Erdis wieder auf, begleitet von mehreren Kriegern von Xansu Shi. Er selbst hatte ihnen zwei seiner kleinen Pferde geschenkt, und obwohl die Frauen das Reiten noch nicht gewohnt waren, dankten sie ihm von ganzem Herzen, denn von nun an mussten sie auf ihrer langen Reise nicht mehr zu Fuß gehen.
Sie verließen das Dorf gen Osten, der aufgehenden Sonne entgegen, als der Tag langsam erwachte.
Dankbar drehte Runa sich um, um Xansu Shi und Tego ein letztes Mal zuzuwinken. Aber sie konnte sie nicht deutlich erkennen. Die Landschaft schien vor ihren Augen zu verschwimmen.
Ein merkwürdiges Gefühl lief durch ihren Körper, ein seltsames Ziehen, das ihr irgendwie bekannt vorkam.
Als ihr Blick sich endlich wieder klärte, saß sie nicht mehr auf dem Rücken des Pferdes. Sie steckte nicht einmal mehr in Runas Körper.
K APITEL 18
Ratlos
M yra sah sich um. Wolken jagten in schneller Folge über den Himmel und tauchten die Landschaft in ein Spiel aus Licht und Schatten. Der Stand der Sonne verriet ihr, dass es später Vormittag sein musste. Ein starker, aber warmer Wind wehte vom Meer herauf, zerzauste ihre kinnlangen Haare und verlieh ihrem Gesicht einen rosigen Schimmer. Die Böen brachten den salzigen Geruch von Meeresluft und Seetang mit sich. Der felsige Boden unter ihren Füßen knirschte mit jedem Schritt, den sie machte, und über ihrem Kopf schrien die Möwen. Der Wald reichte bis an die
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