Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
zog die Decke enger um ihre Körper.
»Fünf Stunden. Nicht länger«, antwortete er. »Versuch zu schlafen. Ich werde Wache halten.«
K APITEL 21
Neues Ziel
M yra erwachte im ersten fahlen Licht der Morgendämmerung. Die Silhouetten der Bäume zeichneten sich schon klar gegen den Himmel ab, und auch die Vögel waren schon munter.
Chad hatte sich neben ihr aufgerichtet. Er beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie zärtlich.
»Wir müssen weiter«, sagte er. »Der Highway ist nicht weit von hier, vielleicht zwanzig Kilometer. Wenn wir ihn erreichen, dann haben wir eine große Chance, Morris zu entwischen.«
Myra sah sich um und strich sich durch das lange wirre Haar.
»In welche Richtung müssen wir gehen?«
»Nach Osten.«
»Wo ist Osten?«
Chad lächelte und blickte zum Himmel hinauf. Zwischen den Zweigen der Bäume konnte man ein paar Sterne erkennen. Die meisten leuchteten nur noch fahl, aber einer von ihnen strahlte in hellstem Glanz. »Dein Name sollte es dir verraten: Folge dem Morgenstern.«
Myra lächelte. Natürlich. Daran hatte sie nicht gedacht.
Jetzt erwachten auch Heather und Meghali und streckten ihre müden Körper.
Chad hatte den Rucksack schon geschultert.
»Wir müssen einen Weg zum Highway finden«, sagte er. »Dort können wir ein Auto anhalten und Morris entkommen, sollte er tatsächlich noch immer hinter uns her sein.«
Die Frauen fröstelten, denn die Morgenluft war kühl, und so stimmten sie nur zu gern zu. Die Bewegung würde sie wärmen.
»Schaut euch um! Es muss einen besseren Weg geben als den schmalen Trampelpfad, auf dem wir gestern Abend gekommen sind.«
Meghali und Heather standen auf und sahen sich in der näheren Umgebung um. Nichts.
Auch Myra suchte. Aber sie suchte nicht nur mit den Augen, sondern auch mit ihrem Willen. Ihr ganzes Wesen konzentrierte sich auf die Suche nach einem Weg, nach einem Ausweg für sie alle. Wieder und wieder bat sie im Stillen: Es muss einen Weg geben. Es muss einen Weg geben.
Und plötzlich sah sie einen Weg! Sie stand beinahe direkt davor, hatte ihn aber bisher nicht bemerkt. Auch die anderen hatten ihn nicht entdeckt. Sie musste an den vergangenen Abend denken. Auch da hatte sich ein Pfad für sie aufgetan. Eine Gänsehaut lief ihr über den Rücken. Was war hier los?
»Seht her!«, rief sie verwundert, denn die Zeit drängte, und deutete auf den Weg vor ihr.
Ungläubig starrten die anderen zuerst den Weg an und dann Myra. Wieder war sie es gewesen, die eine Lösung gefunden hatte. Der Weg zog sich durch das Buschwerk tiefer in den Wald hinein und schlängelte sich – genau in Richtung Osten.
»Kommt!«, forderte Chad die Frauen auf und ging voran. Die anderen folgten.
Sie waren ungefähr eine Stunde unterwegs und hatten schon eine ordentliche Strecke hinter sich gebracht, als Chad plötzlich stehen blieb und sich umsah.
Meghali und Heather blickten ihn fragend an. Hatten sie den Highway schon erreicht?
»Wo ist Myra?«, fragte er und blickte suchend in alle Richtungen.
Heather und Meghali taten es ihm gleich. Myra hatte darauf bestanden, als Letzte zu gehen. Gerade eben noch hatte Meghali mit ihr darüber gesprochen, wie gut es sei, dass es endlich heller wurde. Nun war sie verschwunden!
»Morris?«, fragte die verängstigte Meghali mit stockender Stimme.
Heather und Chad schüttelten den Kopf.
»Sie reist«, stellte Heather zufrieden fest.
»Jetzt?«, rief Meghali entgeistert. »Wo Morris auf unserer Spur ist?« Ein Frösteln lief durch ihren Körper. »Es kann Tage dauern, bis sie wiederkommt. Bis dahin hat Morris uns bestimmt gefunden!«
»Wie dem auch sei«, sagte Heather entschieden. »Wir werden sie nicht im Stich lassen. Wir werden hier auf sie warten.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob Morris uns überhaupt finden wird«, sagte Chad.
»Wie meinst du das?«
»Ist euch nicht aufgefallen, wie dieser Weg ganz plötzlich aufgetaucht ist? Als hätte Myra ihn geschaffen? Findet ihr es nicht verwunderlich, dass er so selbstverständlich hier verläuft, fast wie bestellt, mitten durch die Wildnis, und dass er genau in die Richtung führt, in die wir gehen müssen?«
»Du hast recht.« Heather setzte sich am Rande des Weges auf den Boden. »Ich hätte nichts gegen einen dieser Müsliriegel einzuwenden, die du im Rucksack hast, Chad.«
Myra war lange Zeit als Schlusslicht der kleinen Gruppe durch die Wildnis gewandert und hatte Augen und Ohren offen gehalten, als ihr Kopf auf einmal ganz unerwartet zu schmerzen
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