Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
begann. Unwillkürlich legte sie ihre Hand an die Schläfe, aber das machte die Schmerzen nur noch schlimmer. Der Weg vor ihr begann sich zu drehen, und sie verlor ihr Gleichgewichtsgefühl. Sie musste stehen bleiben.
Dann wusste sie, was mit ihr geschah, denn ein ihr längst bekanntes Ziehen stellte sich in ihrem Körper ein.
Ausgerechnet jetzt! Morris war ihnen möglicherweise noch immer auf der Spur, und die anderen würden sich verpflichtet fühlen zu warten, bis sie zurück war, und ihm dadurch womöglich in die Hände fallen.
Sie wollte Chad noch zurufen, dass er Heather und Meghali in Sicherheit bringen solle, aber es war schon zu spät. Sie fühlte, wie sie von einem magischen Band immer weiter fortgezogen wurde, immer weiter fort von ihrem Selbst.
Als das Schwirren in ihrem Kopf endlich nachließ und sie wieder deutlich sehen konnte, stand sie auf einer kleinen Anhöhe. Sie schirmte ihre Augen mit der Hand gegen das Tageslicht ab.
»Kannst du es sehen?«, fragte Erdis neben ihr. Ihr langes rotes Haar tanzte in der warmen Brise.
Sie wusste, dass Erdis das Meer meinte, und strengte ihre Augen an.
»Nein«, antwortete sie schließlich, »die Wolken hängen zu tief.« Enttäuscht ließ sie ihre Hand sinken.
»Dann lass uns weiterreiten«, meinte Erdis. »Xansu Shis Männer haben gesagt, dass es nicht mehr weit ist.«
Die beiden Frauen lenkten ihre Pferde von der Anhöhe hinunter, die in Wirklichkeit nicht viel mehr war als ein kleiner Hügel, und setzten ihren Weg gen Osten fort.
Sowohl Runa als auch Erdis waren müde und erschöpft von der langen Reise. Wochen waren vergangen, seit sie die Gastfreundschaft von Xansu Shi und Tego genossen hatten. Die Reise in Begleitung der Männer von Xansu Shi war ohne Zwischenfälle verlaufen. Sie hatten die Steppe verlassen und waren den Ausläufern eines Gebirges gefolgt. Schließlich hatten sie die Berge überquert, und der Hauptmann hatte ihnen erklärt, dass sie sich einem riesigen Wasser näherten.
Runa und Erdis hatten innerlich gejauchzt. Wenn das Land bald aufhörte, dann musste auch ihre Reise sich dem Ende zuneigen!
Die beiden Frauen hatten die Krieger auf der Meeresseite des Gebirges zurückgelassen und waren allein weitergereist. Die Männer wollten sich einige Tage ausruhen, bevor sie ihre lange Heimreise antraten. Runa und Erdis hingegen waren voller neuer Energie, beflügelt von dem Gedanken, dass ihre Reise bald zu Ende sein würde.
Aber als sie in den Mittagsstunden noch immer nichts von dem erhofften Meer erkennen konnten, wurden die beiden Frauen langsamer und verfielen in ihren gewohnten Trott.
»Du siehst müde aus«, stellte Runa besorgt fest, nachdem sie ihre Freundin eingehend gemustert hatte.
»Du auch«, entgegnete Erdis und lächelte. »Uns bleibt nichts anderes übrig, als weiterzureiten.« Sie seufzte. »Wir sind unserem Ziel so nahe.« Sie zügelte ihr Pferd, so dass es stehen blieb. »Es müsste doch längst schon zu sehen sein.«
Plötzlich ergriff Runa ihren Arm.
»Riechst du das auch, Erdis? Salzwasser!«
Erdis hob ihr Gesicht und sog die Luft tief ein.
»Du hast recht!«
»Das Ende des Landes ist nahe und damit auch das Ende unserer Reise«, frohlockte Runa, und ihre grünen Augen strahlten. »Dort wird jemand auf uns warten, der meine Botschaft versteht. Es muss so sein!«
Die beiden Frauen trieben ihre Pferde an.
Keine halbe Stunde später vernahmen sie das geliebte Rauschen von Wellen.
Dann endlich, hinter einer Biegung, lag es vor ihnen: das Meer. Rau und schön, rhythmisch und blau und unendlich weit. Das Licht tanzte auf den mächtigen Wellen, die vom Horizont her zum Ufer rollten, und Runa spürte, wie ihr eine Gänsehaut über den Körper lief.
Wie sehr hatte sie das Meer vermisst! Wie sehr hatte sie sich nach seiner Ruhe gesehnt, aber auch nach seiner Wildheit und nach seiner Beständigkeit. Es war, als sei ein Teil von ihr, das für eine lange, lange Zeit abhandengekommen war, nun endlich wieder zu ihr zurückgekehrt.
Schweigend stiegen sie von ihren Pferden, und Runa ergriff Erdis’ Hand. Gemeinsam ließen sie sich auf dem groben Sand nieder und genossen die frische kühle Brise auf ihrem Gesicht.
Dankbarkeit durchflutete Runas Herz, und ein Lächeln legte sich auf ihre Züge.
Erst später fiel ihr auf, dass niemand auf sie wartete. Aber jemand hätte dort sein sollen! Jemand, dem sie ihre Botschaft überbringen und der sie verstehen konnte! Erst dann würde ihre Aufgabe erfüllt sein.
»Niemand ist
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