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Der Ruf des weißen Raben (German Edition)

Der Ruf des weißen Raben (German Edition)

Titel: Der Ruf des weißen Raben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sanna Seven Deers
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werde dort gebraucht, und ich nehme diese Aufgabe gern an. Es sind gute, freundliche Menschen, die in Xansu Shis Dorf leben. Die Geistwesen waren gnädig.«
    Runa sah Erdis lange an. Sie versuchte, sich jede Einzelheit ihres edlen Gesichts einzuprägen.
    »O Erdis, ich hätte nie gedacht, dass wir getrennt werden würden!«
    Sie umarmten sich und hielten sich für eine kurze Weile aneinander fest.
    »Ich habe Angst«, flüsterte Runa.
    »Ich auch«, gab Erdis zu. »Aber ich verstehe nicht, warum du Angst hast. Die ganze Reise über warst du so stark und mutig. Warum sollte es jetzt anders sein?«
    »Ich hatte ein Ziel. In den letzten Wochen hat mir der Gedanke, dass wir bald das Meer erreichen, ungeheure Kraft verliehen.«
    »Und nun hast du ein neues Ziel«, ermutigte Erdis sie und strich ihr liebevoll über das lange helle Haar. »Du musst über das Meer reisen!«
    Runas Augen weiteten sich. Dieser Gedanke war auch ihr schon gekommen, als sie neben der schlafenden Erdis gesessen und gewartet hatte. Aber das war unmöglich. Wie sollte sie so etwas anstellen?
    Erdis fuhr unbeeindruckt fort:
    »Du wirst dein Ziel erreichen, sobald du dieses große Wasser hinter dir gelassen hast.« Sie machte eine ausladende Handbewegung in Richtung Meer. »Ich spüre es!«
    Runa fühlte, dass Erdis recht hatte, auch wenn es noch so widersinnig klang.
    Einen Augenblick lang starrten sie schweigend durch die Zweige der Büsche aufs Meer hinaus.
    »Wann wirst du zu Xansu Shis Männern zurückkehren?«, fragte Runa schließlich.
    »Jetzt gleich«, erwiderte Erdis.
    »Dann werde ich dir jetzt Auf Wiedersehen sagen müssen«, meinte Runa bedrückt. »Je länger ich damit warte, desto schwerer wird es mir fallen, dich gehen zu lassen.«
    »Es gibt etwas, das ich noch tun muss, bevor wir getrennte Wege gehen«, sagte Erdis und sah Runa ernst an. »Komm zu mir herüber.«
    Und wie die anderen Schamanen vor ihr, so gab nun auch Erdis ihre Gabe, nämlich mit Kräutern zu heilen, als Geschenk an Runa weiter. Und wie bei den anderen Schamanen vor ihr, so bedurfte es auch diesmal nur einer Berührung, um ihre Fähigkeit auf Runa und den Talisman zu übertragen.
    Stille Tränen liefen über Runas Gesicht, als sie erkannte, was Erdis tat.
    Plötzlich wurde der Zauber des Augenblicks unsanft gestört. Vom Strand drangen gedämpfte Stimmen zu ihnen, und die Frauen erspähten mehrere Reiter am Ufer.
    »Diese Männer sind wegen dir gekommen«, sagte Erdis. »Sie werden dich auf den richtigen Weg schicken. Es wird das Beste sein, wenn sie mich nicht sehen.«
    »Du hast recht«, stimmte Runa ihr zu.
    Die Frauen umarmten sich ein letztes Mal, und Runa wischte ihre Tränen fort.
    »Vergiss nicht, du musst über das Meer reisen«, mahnte Erdis mit tränenerstickter Stimme.
    »Ich werde es nicht vergessen«, versprach Runa. »Mögen die Geister mit dir sein, meine geliebte Freundin.«
    »Und mit dir«, erwiderte Erdis. »Eines Tages werden wir uns wiedersehen, Runa, das verspreche ich dir. Unsere Seelen sind verwandt. Niemand kann ein solches Band zerreißen.«
    Nach einem letzten Händedruck und einem langen wehmütigen Blick zu Erdis richtete Runa sich entschlossen auf und trat allein aus dem Schutz der Felsen und Büsche hervor.
    Erdis blieb allein zurück.
    Runa ging einige Schritte auf die Reiter zu und hob grüßend die Hand.
    Die Reiter entdeckten sie, wendeten ihre Pferde und galoppierten auf sie zu.
    Runa hob noch einmal die Hand. Diesmal jedoch nicht zum Gruß, sondern um dem angriffslustigen Verhalten der Reiter Einhalt zu gebieten.
    Die Pferde blieben sofort stehen und rührten sich nicht vom Fleck.
    Erstaunt zogen die Männer ihre langen Messer und wollten absteigen.
    Doch wieder hob Runa abwehrend die Hand.
    Die Männer erstarrten, ihre Bewegungen waren wie eingefroren.
    Runa ging auf die Männer zu und rief ihnen einen freundlichen Gruß zu. Aber die Männer schienen ihr nicht zuhören zu wollen. Noch immer zeigten sie Verärgerung und Widerwillen.
    Runa blieb stehen. Sie musste mit dem Schamanen dieser Männer sprechen. Sie musste einen Weg finden, über das vor ihr liegende Meer zu reisen.
    Sie richtete ihren Blick gen Himmel. Augenblicke später jagten dunkle Wolken über den zuvor noch blauen Himmel und ballten sich über den Reitern. Schon im nächsten Moment schüttete es daraus wie aus Kübeln. Die Männer waren innerhalb kürzester Zeit vollkommen durchnässt, während Runa, die nur wenige Schritte von ihnen entfernt stehen geblieben

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